Die Proteste im Iran gingen Mitte September in den kurdischen Gebieten los. Dort greift das Regime aktuell extrem hart durch. Viele Iraner:innen solidarisieren sich mit den Kurden. Shoan Vaisi ist Kurde, politischer Aktivist und in der iranischen Provinz Kurdistan aufgewachsen. Unter Kurdistan versteht man das gesamte Siedlungsgebiet der Kurd:innen. Das erstreckt sich über mehrere Staaten. Im Irak und im Iran tragen zudem Provinzen den Titel Kurdistan.
Vor elf Jahren ist Vaisi nach Deutschland geflüchtet. Über die aktuelle Lage im iranischen Teil Kurdistans hat watson mit ihm gesprochen.
Watson: Shoan, wie schätzt du die aktuelle Lage in Kurdistan ein?
Shoan Vaisi: Es gibt kulturelle Diskriminierung, ein de-facto-Verbot der kurdischen Sprache und kurdischen Kultur, wirtschaftliche Diskriminierung, kaum staatliche Investitionen, aber auch Verhinderung von privaten Investitionen, Menschen sind gezwungen wegzuziehen in andere große Städte. An den Grenzen arbeiten viele als "Kolbar", zu Deutsch Lastträger. Sie tragen Waren auf ihren Schultern über die iranisch-irakische Grenze: viele kommen dabei ums Leben, oder werden von der Grenzpolizei getötet.
Es herrscht eine Dominanz der militaristischen Schicht der Machthaber in Kurdistan. In manchen Städten sind fast 20 Prozent der Bewohner Sicherheitskräfte des Regimes, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Dazu kommt die soziale Situation der Kurden wie Armut. Die Arbeitslosigkeit ist viel höher als anderen Landesteilen.
Was unterscheidet die Lage in Kurdistan von der im Rest des Landes?
Es gibt in Kurdistan eine Besonderheit: Als vor mehr als 40 Jahren das Regime an die Macht kam, hat es zwei, drei Jahre gedauert, bis sie die kurdischen Städte unter Kontrolle hatten. Weil die Kurden und ihre Parteien und die Menschen Widerstand gegen das Regime leisteten – von Anfang an. Es hat ein Referendum gegeben, mit der Frage, ob es eine Islamische Republik geben soll. Der Großteil der iranischen Bevölkerung hat daran teilgenommen und mit Ja gestimmt. Bis auf Kurdistan. Die Bevölkerung hat es boykottiert. Das Regime begann sofort, seine Militärpräsenz in den kurdischen Städten zu vergrößern und es gab auch Angriffe. Tausende Menschen verloren ihr Leben. Sie wurden regelrecht hingerichtet. Es war ein Massaker an den Kurden.
Wovor fürchtet sich das Regime, dass es so brutal gegen Kurdistan vorgeht?
Das Regime fürchtet, dass sich dieses Gebiet jederzeit auflehnen könnte. Daher wird auch die wirtschaftliche Entwicklung unterdrückt. Es herrscht eine strukturelle Diskriminierung. Mit einem kurdischen Namen gerät man in Schwierigkeiten. Engagiert man sich dazu noch politisch, ist die Gefahr noch größer. In Kurdistan ist die Zahl der politischen Gefangenen im Vergleich zur Zahl der Bevölkerung immens hoch. Acht bis zehn Prozent der Iraner sind Kurden. Über 50 Prozent der Gefangenen und über 50 Prozent der Hingerichteten sind Kurden. Das ist seit 43 Jahren so. Da sieht man, das ist ein Gebiet, das Widerstand leistet und das Regime greift an.
Wie wirkt sich das auf die Kurd:innen aus?
Die Menschen sind ärmer. Die Arbeitslosigkeit und Kinderarmut ist viel höher, gleichzeitig ist die Wirtschaftskraft der kurdischen Gebiete viel zu niedrig. Wenn man sich die sozialen Fragen anschaut – also Armut und Arbeitslosigkeit – dann sind die kurdischen Gebiete am härtesten betroffen. Zudem ist die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Es gibt sehr viele Polizeiwachen, das heißt, wenn du nachts hinausgehst, wirst du einfach kontrolliert, musst dein Handy vorzeigen. Die Polizei geht willkürlich in Stadtteile, nimmt junge Menschen fest und terrorisiert die Bevölkerung. Dabei gehen sie nicht nur gezielt gegen Demonstrierende vor, sondern auch gegen Menschen, die einfach in diesen Gebieten wohnen.
Stehst du aktuell in Kontakt mit den Menschen in Kurdistan? Was berichten sie dir?
Ich erhalte viele Bilder von Aktivisten. Diese zeigen, wie extrem das Regime in der Region aufrüstet. Sie bringen so viel Kriegsmaterial dorthin, als würden sie in ein fremdes Land einmarschieren wollen. Ganze Städte sind militarisiert worden. Von den Leuten vor Ort bekomme ich nur einen Bruchteil mit. Aber das, was sie mir erzählen, zeigt: Was das Regime dort anrichtet, kann man nicht anders als ein Massaker bezeichnen. Das wäre auch nicht das erste Mal.
Was ist dieses Mal anders?
Der Unterschied ist: Dieses Mal ist der Aufschrei und die Solidarität bei den Iranern unglaublich stark. In den 1980er-Jahren konnte das Regime einfach Menschen in Kurdistan umbringen und angreifen, ohne dass in anderen Städten dagegen protestiert wurde. Aber dieses Mal sind alle Menschen solidarisch miteinander und das macht es für das Regime nicht so leicht, wie früher in Kurdistan oder Belutschistan zu töten, ohne dass andere Teile des Landes aufstehen.
Es gab Berichte, dass das iranische Regime Giftgas gegen die Kurd:innen eingesetzt hat. Kannst du das bestätigen?
Nein, aber ich traue diesem Regime alles zu. Offizielle Sprecher und Mitglieder des iranischen Regimes haben gesagt, dass sie Kriegsmaterial eingesetzt haben, um den Unruhen, wie sie es nennen, Herr zu werden. Sie haben also zugegeben, dass sie Kriegsmaterial einsetzen und mit Waffen die Proteste niederschlagen. Dass solche Verbrechen seitens des Regimes zugegeben werden, ist sehr selten.
Die besondere Rolle der Kurd:innen für den Iran hast du bereits erläutert. Welche Rolle übernehmen sie bei den Protesten?
Die Kurden sind seit dem ersten Tag an erster Front, sie sind der Motor dieser Revolution. Auch ein Mutmacher für die Revolution. Die Kurden wissen, wie sie sich organisieren, weil sie seit Jahrzehnten im Untergrund kämpfen. Sie wissen, wie man trotz schwieriger Situation, zusammen kämpft und Widerstand leistet. Und das macht dem iranischen Regime Angst.
Der Albtraum des iranischen Regimes ist also wahr geworden?
Absolut. Sie hätten es nicht für möglich gehalten, dass alle gemeinsam gegen das Regime kämpfen würden. Einer der Schlachtrufe, der auch im persischsprachigen Zentral-Iran gerufen wird, lautet: "Zahedan, Kurdistan, Cheshm-o Cheragh-e Iran" – also Zahedan, die Hauptstadt der Provinz Belutschistan, und Kurdistan, Licht und Auge des Iran.
Das zeigt, dass die Bevölkerung sich nicht spalten lässt. Was bedeutete das für den Verlauf dieser Bewegung?
Das zeigt, was diese Revolution so besonders macht. Es gibt Kämpfe von Bandar-Abbas im Süden bis Ardebil im Norden – gleichzeitig. Und alle haben das gleiche Ziel und der Feind ist das iranische Regime. Zwischen Zahedan und Ardebil liegen fast 2000 Kilometer. Die Entfernung ist größer als zwischen München und Istanbul. Das zeigt die Dimension des Protests: Zum ersten Mal sind die Menschen landesweit auf den Straßen und setzen ihre Kraft dafür ein, dieses Regime zu stürzen. Sie machen sich gegenseitig Mut. Das ist das Schöne und Besondere an diesen Kämpfern. Damit diese Proteste weitergehen und am Ende zum Ziel führen.
Wie nah ist der Sturz des Regimes deiner Ansicht nach?
Ein Regime, das in kürzester Zeit mehr als 400 Menschen getötet hat, darunter Kinder, hat gar keine Existenzberechtigung mehr. Nicht nur für mich, für Millionen Iraner. Und deswegen, es gibt keinen anderen Weg, als dieses Regime zu stürzen. Und das wird früher oder später kommen. Es ist ein langer Weg. Es wird auch nicht so schnell gehen, wie wir uns das wünschen. Aber meine politische Vision ist, dass das Regime verschwindet und dass wir einen demokratischen, einen freien Iran bekommen, in dem alle Menschen frei leben können – ohne jegliche Form von Diskriminierung. Und ich glaube, dies wird möglich sein angesichts der Kräfte, die im Iran auf die Straße gehen.