Er zählt zu den bekanntesten und gleichzeitig umstrittensten Grünen-Politikern des Landes. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer sorgt regelmäßig mit pointierten Meinungsäußerungen und handfesten Skandälchen bundesweit für Schlagzeilen.
Zur Oberbürgermeister-Wahl im Herbst will er ein drittes Mal antreten – diesmal als Parteiloser, weil seine Grünen ein Parteiausschlussverfahren wegen Rassismus eingeleitet haben. Mit Boris Palmer haben wir über grüne Grundwerte, "Cancel Culture" und die politische Sozialisation durch seinen Vater gesprochen.
watson: Herr Palmer, ohne Sie wäre Tübingen vielen Deutschen wohl unbekannt. Was macht die Stadt so besonders?
Boris Palmer: Tübingen ist die Stadt von Hegel und Hölderlin, Ludwig Uhland und Wilhelm Hauff. Die These, dass wir nicht auffallen würden, teile ich schon gar nicht.
Wir haben eine Exzellenzuniversität und sind ein wichtiger Punkt auf der wissenschaftlichen Landkarte. Selbst die mRNA-Impfstoffe sind in Tübingen erfunden worden. Und damit sind wir schon beim Besonderen.
Das wäre?
Tübingen ist eine "Polis", wie der Philologe Walter Jens gesagt hat. Also eine Stadt, in der heftig diskutiert wird. Die groß genug ist, dass hier die ganze Welt gedacht werden kann, und die gleichzeitig so klein ist, dass man sie verstehen und überschauen kann.
Tübingen zieht als Universitätsstadt viele junge Menschen an. Was möchten Sie tun, damit die Stadt auch künftig für diese attraktiv ist – und sie bleiben?
Die Perspektive zu bleiben kann ich den jungen Menschen nicht geben. Wir haben 90.000 Einwohner und 30.000 Studierende, deshalb müssen die meisten nach dem Studium wieder gehen. Das ist auch richtig so, weil Tübingen für Deutschland ausbildet, und nicht für Tübingen.
Okay, aber was bieten Sie denen, die bleiben wollen?
Die Perspektive, die ich jungen Menschen aufzeigen möchte, ist, mit dem Klimaschutz in der Kommune ein globales Problem anzugehen. Klimaschutz findet immer vor Ort statt. Das habe ich schon in meiner Antrittsrede 2007 zum Hauptthema gemacht. Wir leisten Pionierarbeit und zeigen, was möglich ist.
Als OB haben Sie eine gute Bilanz, bei der Klima- wie bei der Verkehrspolitik. Gleichzeitig greifen Sie regelmäßig in bundesweite Debatten ein, 2018 waren Sie auf einer Klimakonferenz in San Francisco. Ist Ihnen Tübingen zu klein?
Ich finde Tübingen genau richtig. Die Erwartung, sich auf einen Kirchturms-Horizont zu beschränken, dagegen völlig falsch. Wenn wir etwas leisten, das andernorts gerne kopiert werden kann, und zu Diskussionen Anlass gibt, wäre es falsch, von mir Schweigen zu verlangen, sobald die Stadtgrenze erreicht ist.
Ich war zum Beispiel der erste Oberbürgermeister, der durch ein kommunales Gesetz Öffnungen mit Tests in Schulen und in der Gastronomie ermöglicht hat. Das ist heute bundesweit Standard.
Gegen Sie läuft ein Parteiausschlussverfahren, weil Sie 2021 in einer Äußerung über den ehemaligen Profifußballer Dennis Aogo das N-Wort verwendet haben. Ihr 2017 erschienenes Buch über die Flüchtlingskrise heißt "Wir können nicht allen helfen." Können Sie verstehen, dass Sie den Grünen damit zu viel zumuten?
Nein, kann ich nicht. Ich erinnere daran, dass sich Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann schon mal mit Parteiausschluss-Androhungen befasst hat, weil er sich um Müllverbrennungsanlagen gekümmert hat.
Ich weiß, dass es in den Gründungszeiten der Grünen Kämpfe zwischen Jutta Ditfurth und Joschka Fischer gegeben hat. Warum jetzt die Sensibilitätsschwelle für andere Auffassungen so viel niedriger angesetzt sein sollte, und meine Partei das Streiten nicht mehr üben möchte, kann ich nicht verstehen.
Jutta Ditfurth gehörte zum linken Lager, Joschka Fischer ist Realpolitiker. Welcher der zwei Grünen-Koryphäen fühlen Sie sich politisch verbundener?
Das ist leicht zu beantworten: Natürlich Joschka Fischer.
Der designierte Parteichef Omid Nouripour hat in der ARD angekündigt, Sie zu fragen, was Sie eigentlich antreibt. Was werden Sie ihm antworten?
Das sollte ich zuerst ihm beantworten und nicht Ihnen. Warten wir mal ab, wann er sich meldet.
Sie haben mal gesagt, Sie brächen Tabus, um die liberale Demokratie zu verteidigen. Wie viel Narzissmus steckt in Ihrem Handeln?
Diese Frage einem Politiker zu stellen, ist so ähnlich wie einen Gourmet zu fragen, ob ihm das Essen schmeckt. Wer sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen möchte, kann Politik gar nicht ausüben.
Ich finde es daneben, wenn küchenpsychologische Charakterprofile erstellt werden. Wer in der Politik ist, hat ein Bedürfnis, wahrgenommen zu werden. Anders ist das gar nicht auszuhalten. Jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gehe, stehe ich unter Beobachtung.
Vor allem online geben Sie sich bürgernah und streamen etwa Bürgersprechstunden. Wie gut kommen Sie wirklich vor Ort an?
Das habe ich mal mit einer Forsa-Umfrage überprüfen lassen. Mehr als zwei Drittel der Tübinger sind mit meiner Amtsführung zufrieden.
Ich führe das auch darauf zurück, dass ich Debatten nicht ausweiche und mich dem direkten Gespräch mit den Bürgern stelle, statt sie mit Kanzleitrost abzuservieren oder durch Schweigen ins Leere laufen zu lassen.
Warum sind Sie ursprünglich in die Grünen eingetreten?
Weil ich 1986 erlebt habe, wie ein Atomkraft-Unfall in der Sowjetunion die Lebensmittel in schwäbischen Landen zerstört hat, und wir Rhabarber und Erdbeeren im Betrieb meines Vaters vernichten mussten.
Und weil ich überzeugt war, dass meine Generation die Aufgabe hat, die Selbstzerstörung der Zivilisation aufzuhalten.
Gerade hat die Europäische Kommission Atomkraft und Erdgas als nachhaltig eingestuft…
Das ist natürlich in der Sache falsch. Aber als Europäer muss man aushalten, wenn die Mehrheit der Staaten das anders sieht.
Zurück zu den Grünen. Die werden künftig von Ricarda Lang und Omid Nouripour angeführt. Was halten Sie von den designierten Parteichefs?
Omid Nouripour kenne ich seit fast zwanzig Jahren. Er ist ein herausragend kluger und intelligenter Politiker, ich freue mich sehr über seine Wahl.
Ricarda Lang bin ich im Leben noch nicht begegnet und habe ihren Namen zum ersten Mal vor zwei Monaten gehört. Das erlaubt mir kein Urteil.
Nach zahlreichen Vorwürfen gegen Sie scheinen Ihre Grünen Sie nun endgültig fallen zu lassen. Tut das weh?
Ja, ich finde das sehr schmerzhaft. Weil ich nach meiner Überzeugung in Wort und Tat ur-grüne Anliegen verfolge und auch aufzeige, wie man diese erreicht. Dass das nicht gewürdigt wird und stattdessen versucht wird, mir meine politische Heimat zu nehmen, ist traurig.
Für die einen sind Sie ein Rebell, für die anderen ein Störenfried. Wie würden Sie sich selbst bezeichnen?
Ich finde beide Bezeichnungen in Ordnung. Das sind aus bestimmten Perspektiven zutreffende Beschreibungen. Ich finde, Unruhe ist eine Bürgerpflicht. Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist eine Suppe ohne Salz.
Diskussionen mit eingeschlafenen Füßen liegen mir nicht. Ich selbst denke nicht in Schubladen. Ich sage, tue und denke, was ich für richtig halte. Der Rest interessiert mich erstmal nicht.
Schon Ihr Vater Helmut Palmer, ein von den Nationalsozialisten drangsalierter Bürgerrechtler, trug den Beinamen „Remstal-Rebell.“ Liegt die politische Provokation in der Familie?
Eine Sozialisation durch die Eltern bestimmt uns alle. Ich habe an meinem Vater erlebt, wie viel persönlichen Einsatz man leisten kann. Er ging dafür an die Schmerzgrenze und ins Gefängnis…
…in Stuttgart-Stammheim, wo auch Terroristen der Roten Armee Fraktion saßen…
…richtig, er war dort für fast anderthalb Jahre. Fast immer wegen abweichender Auffassungen und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Soweit will ich ganz bestimmt nicht gehen.
Aber immer, wenn ich politisch unter Druck bin, stelle ich mir die Frage, ob dieser Druck im Vergleich zu den Erlebnissen meines Vaters relevant ist. Und dann sage ich mir: So schlimm ist das alles nicht, sich beschimpfen zu lassen.
Nun wollen Sie als parteiloser Kandidat zur Bürgermeisterwahl antreten. Auch Ihr Vater, ursprünglich ein Obstbauer, hat immer wieder als Parteiloser für das Amt kandidiert. Was haben Sie von ihm gelernt?
Ich habe von ihm gelernt, dass man für seine Überzeugungen einsteht und nicht beim ersten Gegenwind umfällt.
Auf dem Klo Ihrer Eltern hängt ein Spruch Martin Luthers, haben Sie in einem Brief an Ihre Partei mal erzählt: "Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz". Was meinten Sie damit?
Das Holztäfelchen mit dem Spruch hängt da immer noch. Ich verstehe das so: Die allzu pietätvolle Betrachtung der Sprache führt eher nicht dazu, dass man was Vernünftiges schafft.
Gibt es von dieser „pietätvollen Sprache“ zu viel bei den Grünen?
Es gibt allgemein eine überbordende Political Correctness, die dazu führt, dass Menschen nicht mehr sagen, was sie denken. Und es gibt den Versuch, durch Ausgrenzung und Repression den Meinungskorridor unzulässig einzuengen.
Genauso gibt es übrigens den Versuch, ihn unzulässig auszudehnen, etwa auf volksverhetzende Tatbestände. Beidem stelle ich mich entgegen.
Herr Palmer, wann machen Sie sich auf den Weg in die Bundespolitik?
Gar nicht. Das liegt mir nicht. Die ist streng parteipolitisch geprägt, und offenbar ist es für mich ja schon schwierig, in einer Partei Mitglied bleiben zu dürfen.