"Es fehlt gerade an mutigen Politikern": Politologe Renzsch kritisiert Corona-Gipfel
Seit einem Jahr entscheiden vor allem Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten bei ihren Treffen gemeinsam über die Pandemiebekämpfung. Politologe Wolfgang Renzsch hält das für problematisch: Er fordert mehr regionale Unterschiede – und mehr Politiker, die persönlich Verantwortung übernehmen.
Seit einem Jahr wiederholt sich das Schauspiel alle paar Wochen: Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der 16 Länder treffen sich, die meisten sind per Videoschalte dabei. Und sie entscheiden über Lockdowns oder Lockerungen, über Kontaktbeschränkungen und Beherbergungsverbote.
Die Ministerpräsidentenkonferenz ist die wichtigste Bühne der deutschen Corona-Politik. Sollte das so sein? Wäre es nicht besser, wenn der Bund selbst viel mehr entscheiden würde? Verliert der deutsche Föderalismus gerade viele Fans?
watson hat darüber mit Wolfgang Renzsch gesprochen, Politikwissenschaftler an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Renzsch hat sich in seiner Forschung intensiv mit den Beziehungen zwischen Bund und Ländern beschäftigt.
Deutschland ist seit gut einem Jahr in der Corona-Krise, manche sagen: in einem Notstand. Könnte der Bund – wie es ihm das Grundgesetz ermöglicht – einen inneren Notstand ausrufen und mehr Rechte an sich ziehen?
Nein. Die Notstandsgesetze sind ja nicht für Pandemien gedacht, sondern für militärische Angriffe auf Deutschland oder innere Unruhen. Von beidem kann nicht die Rede sein. Das Wichtigste wird jetzt über das Infektionsschutzgesetz geregelt.
Das Grundgesetz gibt der Bundesregierung aber auch bei Naturkatastrophen besondere Rechte.
Richtig, das Infektionsschutzgesetz regelt das ja auch. Die Bundeswehr wird zum Beispiel auch schon eingesetzt im Kampf gegen diese Pandemie. Nur eben nicht mit militärischer Ausrüstung, sondern mit Soldaten, die Impfzentren bei der Arbeit unterstützen.
Ist es aus Ihrer Sicht gut oder schlecht, dass Bund und Länder alle paar Wochen sich zu diesen zähen MPKs zusammentreffen, dann stundenlang verhandeln und am Ende einen Kompromiss verhandeln?
Ich halte das für problematisch.
Warum?
Wir sind ein Bundesstaat. Und wenn man sich auf der Landkarte anschaut, wie die Corona-Inzidenzen von Region zu Region sind, dann sieht man einen Flickenteppich. Man hätte sich ja auf gemeinsame allgemeine Regeln einigen können: Was passiert, wenn ein bestimmter Wert überschritten wird? Diese Regeln hätte dann jedes Bundesland für sich umsetzen, aber auch eigene der Situation angemessene Strategien entwickeln können. Das wäre sehr viel sinnvoller gewesen als die jetzigen Versuche, zentralistisch von oben herab die Dinge zu regeln.
"Man kann doch etwas nur zentral regeln, wenn die Bedingungen überall gleich sind! Wir haben Landkreise, wo die Inzidenz unter 35 liegt – und andere, bei denen sie über 500 liegt."
Wer fordert, man sollte in der Pandemiebekämpfung viel mehr zentral regeln, liegt also aus Ihrer Sicht falsch.
Die Zustände vor Ort sind unterschiedlich. Man kann doch etwas nur zentral bestimmen, wenn die Bedingungen überall gleich sind! Wir haben Landkreise, wo die Inzidenz unter 35 liegt – und andere, bei denen sie über 500 liegt. Es ist nicht sinnvoll, beide Situationen mit denselben Maßnahmen anzugehen.
Was halten Sie davon, dass die wesentlichen Entscheidungen seit gut einem Jahr von der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidentenkonferenz getroffen werden – einer Institution, die im deutschen Verfassungsrecht nicht ausdrücklich vorgesehen ist?
Die Ministerpräsidentenkonferenz ist eigentlich nur für die Koordinierung von Bund und Ländern vorgesehen, nicht für politische Entscheidungen. Im Moment sehen wir, dass die Ministerpräsidenten der Länder und die Bundeskanzlerin untereinander sehr verschiedene Philosophien vertreten: Die Kanzlerin will einen möglichst zentralen Lockdown für alle, das wäre wohl auch erfolgversprechend, wenn man es zwei Wochen lang durchhielte. Die anderen sagen, dass das nicht gehe, dass man mit Covid leben und akzeptieren müsse, dass es Tote und Langzeitverletzte gibt, darunter sind auch Verfassungsrechtler.
"Der zuständige Beamte schaut vor allem darauf, dass er sich an die Vorschriften hält. Das Ergebnis ist für ihn dann zweitrangig."
Welche Position halten Sie für vernünftig?
Die dritte Alternative, die No-Covid-Strategie, die Wissenschaftler aus verschiedenen Fächern fordern. Sie sprechen sich für sehr differenziertes Vorgehen aus: für flächendeckende Tests, für eine Unterscheidung zwischen grünen Regionen, wo viel möglich ist, gelben, wo es mehr Einschränkungen gibt – und roten, mit vielen Einschränkungen.
Das erinnert an das Ampelsystem in Italien, bei dem es rote, orangefarbene und weiße Regionen gibt, in denen je nach Infektionszahlen mehr oder weniger erlaubt ist.
Genau, das geht in diese Richtung. Ich verstehe ja auch in Deutschland nicht, worin das Problem besteht, wenn man sich alleine in einem Ferienhaus befindet. Vor allem, wenn man sich vorher testen lässt. Oder wenn sich – wie in Berlin – Personen testen lassen und sich direkt danach in ein Theater setzen. Wenn man No-Covid befolgen würde – mit den Grundsätzen Testen, Testen, Testen und Impfen, Impfen, Impfen – anstatt immer nur auf einzelne Vorschriften zu schauen, dann wären wir sehr viel weiter. Das Problem liegt an der deutschen Verwaltung.
Wie meinen Sie das?
Die deutsche Verwaltung arbeitet nicht ergebnisorientiert, sondern verfahrensorientiert.
Was heißt das?
Der zuständige Beamte schaut vor allem darauf, dass er sich an die Vorschriften hält. Das Ergebnis ist für ihn dann zweitrangig. Vorschriften sind ja auch wichtig, weil sie staatliches Handeln kontrollierbar machen und es dadurch legitimiert wird. Aber in der Krise funktioniert es eben nicht nur mit Vorschriften befolgen.
Wie lässt sich diese Mentalität in der Verwaltung ändern?
Das ist der Job von Politikern, dafür werden sie bezahlt: Dass sie in einer solchen Krisensituation sagen: "Wir machen das jetzt anders". Und dass sie dann entsprechende Entscheidungen treffen. Offensichtlich ist weder Frau Merkel noch einer der Ministerpräsidenten bereit, zu sagen: "Ich übernehme die Verantwortung, wir machen das jetzt so." Es gibt da eigentlich nur zwei Ausnahmen.
Welche meinen Sie?
Die Stadt Tübingen, wo besonders viel getestet und Risikogruppen besonders gut geschützt werden – und Rostock, wo ebenfalls viel getestet wird, die Inzidenz sehr niedrig ist und wo sogar wieder Zuschauer ins Fußballstadion dürfen. Klar, so etwas kann immer auch schief gehen, dann gibt es Ärger. Aber das ist eben das Risiko, das ein Politiker manchmal eingehen soll.
Es gibt in der Corona-Krise einige Widersprüche, die Menschen sauer aufstoßen: Im einen Bundesland sind die Baumärkte offen, ein paar Kilometer weiter, in einem anderen Bundesland, nicht. Urlaub auf Mallorca ist möglich, im Ferienhaus an der Ostsee nicht. Glauben Sie, dass der Föderalismus dadurch an Glaubwürdigkeit verliert?
Das Problem ist nicht der Föderalismus, im Gegenteil: In einem föderalen Staat wie den USA wird etwa das Impfen gerade viel besser geregelt.
"Die wichtigsten Politiker in Deutschland sind schon im Wahlkampf, anstatt wirklich die Pandemie zu bekämpfen."
Das Problem ist aus Ihrer Sicht also nicht das System, sondern mutlose Politiker?
Ja, die wichtigsten Politiker in Deutschland sind schon im Wahlkampf, anstatt wirklich die Pandemie zu bekämpfen. Es fehlt gerade an mutigen Politikern, die auch einmal die Verantwortung für Entscheidungen treffen. Wenn Politiker sagen, wir tragen die Verantwortung gemeinsam, dann heißt das im Endeffekt, dass sie keiner trägt.
Von welchem anderen demokratischen Land kann Deutschland aus Ihrer Sicht für die Zukunft lernen, wie gute Pandemiebewältigung funktioniert?
Gute Frage. In den USA läuft es gerade beim Impfen unter Biden besser als unter Trump – wobei Trump auch schon viel Impfstoff bestellt hatte. In Neuseeland und Australien läuft es wohl besser. Auch in kanadischen Provinzen wie British Columbia. Bei uns scheitert so etwas schon am Vergaberecht: Man kann in Deutschland schwer etwas bestellen, das es noch nicht gibt. Aber so etwas sollen eben auch keine Beamten entscheiden, sondern gewählte Politiker.
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