Raketen auf israelische Städte, Bomben auf Gaza, mindestens 248 Tote in Gaza, 12 Tote in Israel: Die tagelange Eskalation der Gewalt im Nahen Osten hat in diesem Mai viele Menschen weltweit erschüttert. Es war nur die jüngste kriegerische Auseinandersetzung in einem Konflikt, der seit Jahrzehnten schwelt – und der immer wieder in blutigen Auseinandersetzungen ausbricht.
Seit Freitag, den 21. Mai, gilt ein Waffenstillstand zwischen Israel und der radikalislamischen Terrororganisation Hamas. Aber wie geht es jetzt weiter im Nahen Osten?
Tausende junger Menschen in Israel fordern seit Wochen: Es darf nicht wieder so werden wie vorher. Es darf kein Zurück mehr geben zur alten Normalität in Israel und den palästinensischen Gebieten. Die Organisation "Standing Together", die vor Ort für den Dialog zwischen Juden und Arabern im Nahen Osten eintritt, organisiert Demonstrationen gegen die Politik der israelischen Regierung unter dem rechtskonservativen Premier Benjamin Netanjahu – und für eine langfristige friedliche Lösung des Konflikts.
Viele Twitter-Nutzer aus Israel und dem Rest der Welt sind der Bitte von "Standing Together" gefolgt, ihren Profilnamen mit einem lilafarbenen Kreis zu ergänzen um so die Forderung nach einer friedlichen Lösung des Konflikts zu unterstützen.
watson hat mit Alon-lee Green gesprochen, einem der Direktoren von "Standing Together". Er hat die Organisation im Jahr 2015 gegründet. Heute hat sie tausende Mitglieder und deutlich mehr Sympathisanten. Wir haben mit Green darüber geredet, was aus seiner Sicht geschehen muss, damit der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht immer wieder ausbricht, wie seine Vision für eine friedliche Zukunft aussieht, was er Antisemiten in Europa zu sagen hat – und warum er trotz der Gewalt der vergangenen Wochen Hoffnung hat.
watson: Alon-Lee, wie habt ihr Euch gefühlt, als Ende vergangener Woche der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas erklärt wurde?
Wir waren natürlich erleichtert, weil die Gewalt zu Ende war. Aber wir können nicht sagen, dass wir glücklich waren. Das waren zweieinhalb Wochen Gewalt und Blutvergießen, in Gaza, in Städten in Israel, in Jerusalem. Das Problem ist doch: Das war einfach ein weiterer Gewaltausbruch in einem Konflikt, der seit Jahrzehnten andauert.
Was kann denn getan werden, um die nächste Eskalation zu vermeiden?
Wir fordern viel mehr als einen Waffenstillstand. Einer unserer Slogans lautet: "Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren". Wir fordern das Ende der israelischen Besatzung des Westjordanlands, das Ende von Rassismus und Unterdrückung. Aber unsere jetzige Regierung macht keine Anstrengungen, um über diese Fragen zu reden: über die Zukunft der palästinensischen Gebiete, das Westjordanland, das unter Kontrolle des israelischen Militärs steht und den Gazastreifen, den Israel und Ägypten militärisch blockieren.
Diesmal ist die Gewalt – anders als während der vorherigen Eskalationen 2009 und 2014 – auf israelische Städte übergeschwappt, sogar auf Orte wie Haifa, das als Beispiel für friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Arabern gilt. Was war diesmal anders?
Es gibt viele Gründe – aber ich denke, der wichtigste ist, dass der Rassismus in der israelischen Gesellschaft gewachsen ist in den vergangenen Jahren.
Wie meinst du das?
Vor drei Jahren hat unsere Regierung das sogenannte Nationalstaatsgesetz vorangetrieben und durch das Parlament gebracht. Es sieht, kurz gesagt, vor, dass Israel nur die Heimat der Juden ist. Arabisch wird nicht mehr als Amtssprache betrachtet. Es steht zwar nicht ausdrücklich im Gesetz, aber das bedeutet, dass nicht-jüdische Bürger demnach als Bürger zweiter Klasse gelten. Die arabische und palästinensische Minderheit leidet unter zunehmender Diskriminierung, die sie auf allen Ebenen trifft. Dadurch wächst eine Generation frustrierter junger Menschen heran.
Eure Organisation tritt für den Dialog zwischen Juden und Arabern in Israel ein. Wie hat sich die Gewalt der vergangenen zwei Wochen auf die Stimmung bei "Standing Together" ausgewirkt?
Wir sind eine Organisation mit 3000 Mitgliedern – und eine Plattform von vielen anderen Unterstützern. Unser Hauptziel ist der jüdisch-arabische Dialog. Aber wir sind natürlich auch nur ein Spiegel unserer Gesellschaft, der unterschiedlichen Erfahrungen arabischer und jüdischer Bürger. Du hast eine ganz andere Erfahrung vom Leben in Israel, wenn du in einer mehrheitlich arabischen Stadt wie Nazareth oder Umm-al-Fahm lebst – oder in einer mehrheitlich jüdischen wie Tel Aviv oder Be’er Scheva. Wir mussten eine Menge Spaltungen überbrücken.
Inwiefern?
Wir verbreiten unsere Botschaften sowohl auf Arabisch als auch auf Hebräisch. In den vergangenen Tagen haben wir viel darüber diskutiert, ob wir auf Arabisch eine radikalere Sprache verwenden sollen, um bestimmte Menschen zu erreichen – indem wir etwa ein sofortiges Ende der Besatzung fordern und Ausdrücke wie "faschistisch" für die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu verwenden. Der Punkt ist: Das könnte für manche jungen Araber gut klingen, aber für manche Juden sehr anstößig.
Wie habt ihr euch am Ende entschieden?
Dass unser wichtiges Ziel das Ende des gerade tobenden Kriegs war – und dass wir unterstreichen wollten, dass wir politisch gegen Rassismus und Diskriminierung und für Gleichberechtigung kämpfen. Es reicht eben nicht, Araber und Juden einander treffen zu lassen, damit sie sich besser fühlen. Es ist einfach zu sagen: "Wir wollen Frieden" und Probleme wie die Besatzung unter den Teppich zu kehren. Wir müssen diese Probleme angehen und sie lösen. Manche Leute im Umfeld unserer Bewegung hat unsere Botschaft genervt, aber in den vergangenen Wochen sind wir weiter gewachsen.
Du klingst recht optimistisch.
Ja. Das waren zweieinhalb Wochen voll schrecklicher Gewalt – aber wir hatten das Gefühl, dass unsere Botschaft breit akzeptiert wird, in der arabisch-palästinensischen Gesellschaft wie in der jüdischen. Ein paar andere Nichtregierungsorganisationen, die arabischen Parteien in Israel und wir waren die einzigen politischen Kräfte, die eine andere Realität gefordert haben. Eine Realität, in der Menschen nicht mehr sterben müssen, weil sie es nicht rechtzeitig in ihren Bombenschutzraum schaffen – oder weil sie gar keinen Schutzraum haben, weil sie in Gaza leben.
Welche Lösung strebt ihr an, um den Nahostkonflikt zu lösen?
Wir sind für das Ende der israelischen Besatzung des Westjordanlands, für einen unabhängigen palästinensischen Stadt neben Israel mit Ostjerusalem als Hauptstadt – der dann hoffentlich beste Beziehungen zu Israel und seinen Nachbarn hat. West-Jerusalem sollte die Hauptstadt eines Israels in den Grenzen von 1967 sein. Wir müssen die Siedler aus dem Westjordanland auffordern, nach Israel zurückzukehren und die Regierung sollte sie dabei unterstützen, ein Leben in Israel aufzubauen. Innerhalb Israels sollten alle Menschen gleiche Rechte haben, ob sie nun jüdisch oder arabisch sind – oder woher auch immer sie kommen.
Also die Zwei-Staaten-Lösung. Viele Politikexperten in der ganzen Welt sagen, dass diese Lösung tot ist.
Aber was ist denn realistischer? Eine Ein-Staat-Lösung, bei der Menschen sich in den Straßen bekämpfen und sich Siedler wie die Herrscher über das Land fühlen? Das ist doch das perfekte Rezept für weiteres Blutvergießen. Eine Ein-Staat-Lösung mit gleichen Rechten für alle ist ein hübscher Traum. Aber wir haben hier nicht das Privileg, nur über Träume zu sprechen.
Was wäre aus deiner Sicht der erste Schritt in Richtung Frieden?
Das Ende der israelischen Besatzung im Westjordanland – und der Rückzug aller Siedler von dort.
Für wie realistisch hältst du denn eine Zwei-Staaten-Lösung?
Natürlich denke ich nicht, dass sie sofort erreicht werden kann. Aber können wir so, wie wir momentan leben, weitermachen? Die Strategie der rechten israelischen Regierungen der vergangenen Jahre, den Konflikt irgendwie zu managen, ohne ihn zu lösen, ist gescheitert. Ich sehe jetzt nur zwei Lösungen: Entweder erleben wir noch mehr Gewalt und Terror – oder wir tun etwas, um den Konflikt wirklich zu lösen.
Denkst du, dass ihr genug Unterstützung für eure Vision habt?
Wir können wieder eine große Bewegung für das Ende der Besatzung und für Frieden aufbauen, glaube ich. Wir müssen zeigen, dass wir die Mehrheit in der Gesellschaft sind.
Wie könnt ihr das erreichen? In den vergangenen Jahren haben viele progressive Israelis das Land verlassen, manche von ihnen sind nach Berlin gezogen – weil sie den Rechtsruck in Israel satthatten…
… Ich weiß, ein paar Freunde von mir sind auch darunter. Weißt du, ich verstehe, dass Menschen frustriert sind. Es sind ja nicht nur die Gewalt und die Besatzung. Die soziale Kluft zwischen Armen und Reichen wächst, die Löhne sind miserabel, die Lebenskosten steigen. Menschen äthiopischer Herkunft und LGBTQI werden diskriminiert. Aber einer der Slogans unserer Bewegung ist: Wo politisch gekämpft wird, da ist Hoffnung. Und wenn wir auf die jüngere Geschichte schauen, sehen wir doch, dass Veränderung tatsächlich passiert.
Inwiefern?
Wenn du eine US-Amerikanerin 1918 gefragt hättest, ob sie glaubt, dass sie bald wählen kann, hätte sie dir gesagt "Auf keinen Fall". Aber 1920 wurde der 19. Verfassungszusatz verabschiedet und Frauen bekamen in den USA das Wahlrecht. Aber solche Fortschritte gibt es nur, wenn Menschen von unten Druck aufbauen, wenn sie aufstehen und auf die Straße gehen.
Während der jüngsten Gewalteskalation haben bei Pro-Palästina-Demos hier in Deutschland manche Teilnehmer antisemitische Parolen gerufen, Synagogen wurden attackiert. Was denkst du, wenn du solche Nachrichten hörst?
Es macht mich sehr traurig. Wenn ich für "Standing Together" auf Reisen bin, erlebe ich leider selbst, wie Antisemitismus vermischt wird mit legitimer Kritik an israelischer Politik. Es ist völlig legitim, sich gegen die israelische Besatzung des Westjordanlands einzusetzen und das Verhalten der israelischen Regierung zu kritisieren. Aber es ist nicht legitim, das israelische Volk oder Juden mit unserer Regierung gleichzusetzen. Leider passiert das aber oft.
Kannst du mir ein Beispiel nennen, das du erlebt hast?
Wenn ich nach Großbritannien reise, höre ich linksradikale Gruppen Sätze sagen wie "Die zionistischen Medien hier wollen nicht über Palästina berichten". Und ich antworte ihnen dann: "Verstehst du, dass du unterstellst, dass Juden die Medien kontrollieren? Dass das antisemitisch ist?" Manche Menschen verstehen nicht, dass Antisemitismus – der unterstellt, dass Juden irgendwelche magischen Kräfte haben und alles kontrollieren – eine Art von Rassismus ist. Die Realität in Israel ist viel komplizierter als diese antisemitischen Mythen: Eine Umfrage nach der anderen zeigt, dass die Menschen hier für eine Zwei-Staaten-Lösung sind – und damit für ein Ende der israelischen Besatzung im Westjordanland. Nicht jeder von diesen Menschen geht dafür auf die Straße, aus vielen Gründen. Aber würdest du behaupten, dass jeder US-Amerikaner, der nicht für "Black Lives Matter" auf die Straße geht, Rassismus unterstützt? Natürlich würdest du das nicht. Dann unterstelle das bitte auch nicht Israelis.