Glaubt auch nach dem Pandemie-Jahr an die Eigenverantwortung der Menschen: FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Bild: imago stock&people / IPON
Interview
Leutheusser-Schnarrenberger spricht sich für mehr Freiheit für Geimpfte aus: "Impfung ist ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung"
Sobald alle Bürger sich impfen lassen können, sieht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger keinen guten Grund mehr für harte Einschränkungen für Geimpfte. Die ehemalige Justizministerin erklärt, warum sie auch nach dem Pandemie-Jahr an die Eigenverantwortung der Menschen glaubt – und was sie sich von Karl Lauterbach wünscht.
Die Corona-Impfungen in Deutschland haben begonnen, bisher nur für eine recht begrenzte Zahl von Menschen. Schon wird aber darüber diskutiert, ob manche Einschränkungen für die, die ihre Impfung bereits bekommen haben, nicht mehr gelten sollen. Watson hat darüber mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gesprochen, FDP-Politikerin, ehemalige Bundesjustizministerin und Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof.
Leutheusser-Schnarrenberger erklärt in dem Gespräch, warum sie es für richtig hält, dass geimpfte Menschen anders behandelt werden als ungeimpfte. Sie übt Kritik an den Regierungen in Bund und Ländern, weil sie zu wenig getan hätten, um einen zweiten Lockdown zu verhindern. Sie sagt, warum Markus Söders Corona-Politik aus ihrer Sicht mehr Schein als Sein ist – und warum sie sich von Karl Lauterbach ein bisschen weniger deprimierende Botschaften wünscht.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die Idee wird gerade heiß diskutiert: Wenn Menschen gegen Covid-19 geimpft sind, dann werden sie von Corona-Beschränkungen befreit. Marco Buschmann, Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, hat die Möglichkeit zumindest ins Spiel gebracht. Was halten Sie davon?
Es ist noch etwas früh, sich darüber konkrete Gedanken zu machen. Erstens gibt es nur wenige Geimpfte. Zweitens ist noch nicht wirklich erwiesen, wie die Impfung wirkt: Bisher kann man nur annehmen, dass sie vor einem schweren Verlauf der Covid-19-Erkrankung schützt und dadurch vor allem ältere Menschen sicherer sind. Sie schützt aber wohl nicht davor, sich anzustecken und das Virus unbemerkt weiterzuverbreiten.
Was ist, wenn alle sich impfen lassen können und wir wissen, dass die Impfung auch vor einer Übertragung schützt?
Dann kann man darüber reden, dass die Freiheitsrechte von Geimpften nicht mehr so stark eingeschränkt werden wie jetzt. Bestimmte Einschränkungen wären dann nicht mehr verhältnismäßig.
Eine Frau wird in einem Impfzentrum in Niedersachsen gegen Covid-19 geimpft. Bild: dpa / Sina Schuldt
Welche Freiheiten sollten Geimpfte aus Ihrer Sicht zuerst wiederbekommen?
Erst einmal wehre ich mich dagegen, dass man das als "Privilegien" bezeichnet, wie es manche Politiker tun. Im Gegenteil: Es geht darum, ob es eine ungerechtfertigte Benachteiligung ist, wenn Geimpfte weiter dieselben Beschränkungen erleben müssen wie Ungeimpfte. Eine Impfung ist ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung.
Wie könnte so eine unterschiedliche Behandlung Geimpfter aussehen?
Das betrifft besonders den privaten Bereich: Restaurantöffnungen, Fluggesellschaften oder anderes. Da ist dann die Vertragsfreiheit vorrangig, die grundsätzlich jedem Unternehmen die Freiheit lässt, sich die eigenen Kunden auszusuchen, natürlich unter Beachtung auch des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Es gibt dann keine Legitimation mehr, Geimpfte genauso zu beschränken wie Nicht-Geimpfte. Aber wie gesagt: Das gilt erst, wenn auch alle die Möglichkeit haben, sich impfen zu lassen.
"Jeder Bürger sollte entscheiden können, ob er sich impfen lässt. Aber dann entscheidet er eben auch über mögliche Folgewirkungen."
Wie sieht das bei Behörden aus – oder bei Unternehmen, die der Staat ganz oder teilweise kontrolliert: zum Beispiel in Bussen und U-Bahnen oder bei Zügen?
Da geht es um die Daseinsvorsorge und um öffentliche Infrastruktur, darauf müssen alle Bürgerinnen und Bürger Zugang haben. Davon wird man ungeimpfte Bürger nicht ausschließen können, weil der Staat eine Verantwortung für alle hat. Ich kann ja zum Beispiel einem ungeimpften Arbeitslosen nicht verbieten, in ein Jobcenter zu gehen.
Die Politiker der großen Koalition, die gegen mehr Freiheiten für Geimpfte sind, sagen, dass das eine Impfpflicht durch die Hintertür wäre. Wie sehen Sie das?
Ich bin auch gegen eine Impfpflicht. Jeder Bürger sollte entscheiden können, ob er sich impfen lässt. Aber dann entscheidet er eben auch über mögliche Folgewirkungen, darüber ist er auch informiert. Ich kann heute schon nicht in manche afrikanische Staaten oder nach Brasilien reisen, wenn ich nicht gegen Gelbfieber oder Hepatitis geimpft bin. In manche Altenheime können Besucher heute schon nur nach einem Corona-Test gehen.
Ist bei Corona-Impfungen eine solche unterschiedliche Behandlung vom Grundgesetz gedeckt?
Ja. Unsere Verfassung verbietet zu Recht eine unterschiedliche Behandlung wegen Geschlecht, Herkunft, Religion oder Hautfarbe. Aber eine Impfung ist ein sachlicher Grund, das ginge.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist seit Jahrzehnten eine der bekanntesten Politikerinnen der FDP. Sie war zweimal Bundesjustizministerin, von 1992 bis 1996 und von 2009 bis 2013. Seit 2018 ist sie Beauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen gegen Antisemitismus, seit 2019 außerdem Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Sie wird dem linksliberalen Flügel der FDP zugerechnet. Leutheusser-Schnarrenberger gilt als Verfechterin der Freiheitsrechte: Im Dezember 1995 verkündete sie unter Tränen den Rücktritt von ihrem Ministerposten, weil sie den sogenannten "Großen Lauschangriff" nicht mittragen wollte: ein Gesetzespaket, das es Polizei und Staatsanwaltschaft erleichtern sollte, Menschen abzuhören. Die Mitglieder der FDP hatten sich zuvor in einer Befragung mehrheitlich für den Lauschangriff ausgesprochen. Leutheusser-Schnarrenberger klagte später gegen den Lauschangriff vor dem Bundesverfassungsgericht – und bekam in weiten Teilen Recht.
(se)
Wie optimistisch sind Sie für 2021: Wann können wir zurück auf Konzerte und in die Kinos, in Kneipen und Clubs?
Ich bin optimistisch, dass das gehen wird. Wohl nicht in den ersten Monaten, eher später im Jahr – und auch dann nur mit Abstandsregelungen und Maske. Die Politik sollte aber nicht den Eindruck erwecken, dass sich gleich das Tor für alle Freiheiten öffnet. Das wird nicht möglich sein – und es verärgert die Bürger auch, wenn ihnen mögliche Lockerungen wie ein Wurstzipfel vor die Nase gehalten werden. Die Regierung müsste stattdessen jeden Tag erklären, dass die Beschränkungen einen Zweck haben: nämlich, möglichst schnell wieder davon wegzukommen.
Als Liberale setzen Sie immer stark auf die Eigenverantwortung der Menschen. In diesem Pandemie-Jahr hat sich aber gezeigt, dass es ohne staatliche Beschränkungen eigentlich nicht möglich ist, die Infektionen in den Griff zu bekommen. Es gibt immer eine Minderheit, die sich unvernünftig verhält. Wie sehen Sie das?
Die Liberalen achten in der Krise immer darauf, dass Freiheitsrechte nur so kurz wie möglich und mit Augenmaß eingeschränkt werden. Das schreibt auch unser Grundgesetz vor – und Gerichte korrigieren deswegen immer wieder Beschränkungen, die zu pauschal, willkürlich oder unbegründet sind. Liberale sind aber natürlich auch dafür, dass der Staat effektiv handeln kann.
"Dass manche jungen Menschen dann auch mal sagen: 'Ich möchte feiern' und dann noch um halb zehn auf der Straße sind, ist zumindest nachvollziehbar."
Enttäuscht Sie es, dass es zu viele Bürger ohne staatliche Kontrolle nicht schaffen, die Anti-Corona-Maßnahmen einzuhalten?
Ich bin nicht enttäuscht von den Bürgerinnen und Bürgern. Unbelehrbare, die alle wissenschaftlichen Fakten ablehnen, gibt es immer. Diese Leute darf man nicht unterschätzen, aber sie sind doch deutlich in der Unterzahl. Dass manche junge Menschen auch mal sagen: „Ich möchte feiern“ und dann noch um halb zehn auf der Straße sind, ist zumindest nachvollziehbar. Die meisten Menschen sind doch sehr verantwortungsbewusst.
Sieht man auf die Umfragen zur Beliebtheit von Politikern, dann hat 2020 vor allem Markus Söder profitiert, der sich immer wieder als Hardliner gezeigt hat. Wie sehr schmerzt sie das als Liberale?
Das ist nichts Neues. Das haben wir auch bei der Gefahr durch Terror und organisierte Kriminalität gesehen. Wer da entschlossen auftritt, vermittelt ein Gefühl von Sicherheit, das wollen viele Bürger in unsicheren Zeiten. Aber die Situation in Bayern ist ja nicht glanzvoll: Die Corona-Tests haben oft nicht funktioniert. Bei den ersten Impfungen hat es nur in Bayern Probleme mit der Kühlkette gegeben. Bei Herrn Söder zeigt sich: Forsches Auftreten allein macht die Situation noch nicht besser. Das sagt die Opposition im Landtag – und gerade auch die FDP – immer wieder deutlich.
Leutheusser-Schnarrenberger über Markus Söder (hier bei einer Pressekonferenz im Juli): "Forsches Auftreten allein macht die Situation noch nicht besser". Bild: dpa-Pool / Peter Kneffel
"Man hat nach dem ersten Lockdown viele Chancen nicht genutzt."
Sie hatten sich im Sommer vehement dagegen ausgesprochen, dass es einen zweiten Lockdown gibt. Am Ende ist er doch gekommen. Was haben die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin aus Ihrer Sicht falsch gemacht?
Man hat nach dem ersten Lockdown viele Chancen nicht genutzt. In den Schulen zum Beispiel. Das Ziel war ja immer, die Schulen offen zu halten. Aber man hat erst nach Monaten über Luftfilter gesprochen. Dass es an der Digitalisierung in den Klassenzimmern krankt, muss ich eigentlich nicht mehr wiederholen. Es gab zu wenig Testmöglichkeiten. Außerdem hat man die Senioren, die am meisten gefährdet sind und die jetzt zurecht als erste geimpft werden, überhaupt nicht im Blick gehabt. Man hat gesagt, die Altenheime sollen sich kümmern – aber es hat ewig gedauert, bis es dort FFP2-Masken gab. Die Leitungen wurden alleine gelassen.
Hätte ein zweiter Lockdown mit besseren Konzepten für Schulen und Seniorenheime verhindert werden können?
Das kann im Nachhinein keiner mehr eindeutig belegen.
War es ein Fehler, vergleichsweise viele Reisen in Europa im Sommer und zu Herbstanfang zu ermöglichen und so das Virus wohl wieder stärker in Umlauf zu bringen?
Man hat sich vor allem zu wenig mit den Menschen beschäftigt, die aus dem Urlaub zurückgekehrt sind. Die Reisewelle war wieder zurück – und man hat es nicht geschafft, genug Menschen zu testen. Das ist voll danebengegangen. Grenzen zu schließen wäre keine Alternative gewesen. Aber es hätte ein Konzept für Reiserückkehrer gebraucht.
Sie hätten sich also mehr Tests und eine bessere Überwachung der Quarantäne gewünscht?
Ja, auf jeden Fall. Und das nicht nur in einer Region, sondern in ganz Deutschland.
"Wenn Herr Lauterbach auch mal ein aufmunterndes Wort fände, wäre das nicht schlecht."
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hat am Mittwoch im „ZDF Morgenmagazin“ gesagt, dass die drei schwersten Monate der Pandemie noch vor uns liegen. Und die Infektionszahlen sind ja tatsächlich weiter erschreckend hoch. Wie kommen wir da am besten durch?
Nicht, indem wir die Bürger dauernd durch Kassandra-Rufe in die tiefste Depression stürzen. Die Regierung muss klar sagen, dass wir in einer schwierigen Phase sind. Aber auch, dass wir da rauskommen.
Leutheusser-Schnarrenberger über Karl Lauterbach: "Bitte nicht ständig erzählen, dass alles immer noch schlimmer wird!" Bild: www.imago-images.de / Reiner Zensen
Sie würden sich von Herrn Lauterbach mehr Optimismus wünschen.
Wenn Herr Lauterbach auch mal ein aufmunterndes Wort fände, wäre das nicht schlecht. Die Vertreter der Großen Koalition sollen sicherstellen, dass die Regierung mehr tut, um möglichst vielen Menschen eine Impfung zu ermöglichen. Aber bitte nicht ständig erzählen, dass alles immer noch schlimmer wird! Das erreicht die Bürgerinnen oder Bürger nicht. Die wissen doch, dass wir in einer schwierigen Lage sind. Sie wollen eine Ansage, wie wir da wieder rauskommen.
Im November wählen die USA nicht nur alle vier Jahre eine:n neue:n Präsident:in, sondern auch einen Teil des Kongresses. Oft steht dieser in den Schlagzeilen, weil er beispielsweise bestimmte Gesetze blockiert. Auch reisen immer wieder ausländische Staatsoberhäupter an, um vor dem US-Kongress zu sprechen.