Ein Mädchen hält in der Region Luhansk die russische Flagge in die Höhe.Bild: www.imago-images.de / ITAR-TASS
Interview
Experte Marcus Keupp zeigt auf, wo sich der Zerfall der russischen Wirtschaft am deutlichsten zeigt. Zudem sagt er, wo die Ukrainer als Nächstes angreifen könnten und was er von Leuten wie Gianni Infantino hält.
Corsin Manser / watson.ch
Watson: Herr Keupp, schaden die Sanktionen dem Westen mehr als Russland?
Marcus Keupp: Das ist vollkommener Unsinn.
Auf Social Media kursieren aber immer wieder Videos, wonach Europa extrem unter den Sanktionen leidet.
Solche Nachrichten werden vor allem von der extremen Linken und Rechten verbreitet. Sie behaupten, dass wir uns mit den Sanktionen in den eigenen Fuß schießen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn man diese Argumentation nach den Daten abklopft, fällt sie schnell in sich zusammen. Russlands Wirtschaft befindet sich in einem technologischen Zerfall.
Zur Person
Marcus Matthias Keupp lehrt an der Militärakademie der ETH Zürich. Zu den Forschungsschwerpunkten des Militärökonoms gehört unter anderem die "Ökonomie des modernen Wirtschaftskrieges". 2021 veröffentlichte er das Buch "Die Illusion der Abschottung" im SpringerGabler Verlag.
Wie macht sich das bemerkbar?
Am deutlichsten sieht man das an der russischen Automobilindustrie. Der Chef der Firma AvtoVAZ, die Lada-Autos herstellt, hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass er nicht mehr weiterbauen könne, weil die Komponenten fehlen. Nun überlegt er sich, die Komponenten aus dem Iran zu beziehen, weil die Russen sie selbst nicht mehr herstellen können. Das ist eine Bankrotterklärung. Den Zerfall der Wirtschaft sieht man auch sehr deutlich bei der Flugzeugindustrie.
Erläutern Sie!
Aeroflot hat momentan die Hälfte der Flotte gegroundet. Die stillgelegten Flugzeuge werden nun auseinandergenommen, um daraus Komponenten zu gewinnen, die man als Ersatzteile braucht. Man kann die Tage zählen, bis der innerrussische Flugverkehr eingestellt werden muss. Da stellt sich für mich die Frage: Wie hält man ohne Flugverkehr ein Land mit 17 Millionen Quadratkilometern zusammen?
Der Militärökonom Marcus Matthias Keupp lehrt an der Militärakademie der ETH Zürich. Bild: ETH Zürich
Gibt es in Russland auch Industrien, die momentan wachsen?
Das Einzige, was momentan wächst, ist die Metallindustrie. Das liegt daran, dass die Russen jetzt Panzer und Waffen bauen. Aber die ganze Exportindustrie geht momentan komplett den Bach runter. Technologisch sind die Russen nicht mehr wettbewerbsfähig. Und das, was sie noch herstellen können, fließt jetzt in Rüstungsgüter. Wenn man dazurechnet, dass sich der Westen von den fossilen Energien distanzieren wird, ist das kein Wachstumsmodell für Russland – diplomatisch gesagt.
Und undiplomatisch?
Ich habe im April und Mai gesagt, das ist ökonomischer Selbstmord. Dazu stehe ich immer noch. Das ist ein Zerfall in Slow-Motion.
Der Preis für Öl und Gas ist im Vergleich zum Sommer wieder gesunken. Was bedeutet das für Russland?
Das bedeutet in erster Linie weniger Einnahmen. Langfristig müssen sich die Russen aber sowieso auf einen Verlust von Absatzpotenzial einstellen. Von der russischen Gasproduktion gehen 60 Prozent in Richtung Westen – und zwar via Pipelines. Bis Ende dieses Jahrzehnts wird dieser Markt komplett wegbrechen. Und den können sie nicht ersetzen.
Können sie nicht einfach in den Osten exportieren? Etwa nach China?
Nein. Im Osten haben die Russen zwar eine Pipeline. Die "Power of Siberia". Aber dazwischen fehlt die Infrastruktur. Russland müsste riesige Pipelines durch die eurasische Landmasse bauen. Und das unter einem Sanktionsregime. Da können wir im Jahr 2100 nochmals vorbeischauen.
Russland hat ungefähr 300'000 zusätzliche Soldaten mobilisiert. Weitere Mobilisierungswellen sind nicht ausgeschlossen. Was bedeutet das für die Wirtschaft?
Sie müssen nicht nur die Mobilisierten zählen, sondern auch diejenigen, die vom Krieg davongelaufen sind. Dann sind wir etwa bei einer Million Russen, die der heimischen Wirtschaft momentan fehlen.
"Ein Großteil der Mobilisierten wird nie wieder zurückkommen. Sie werden in der Ukraine als Kanonenfutter sterben."
Mit welchen Folgen?
Dieses Produktionspotenzial wird der Wirtschaft entzogen. Das Hauptproblem jeder Kriegswirtschaft ist, dass die zivile Produktion nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Die Ressourcen werden stattdessen in die Kriegsproduktion gesteckt. Das ist nicht alles: Es gibt zahlreiche Berichte von russischen Lehrern und Professoren, die sich über die Lage beschweren.
Was berichten sie?
Sie klagen, dass sie nicht mehr unterrichten können, da zahlreiche Lehrkräfte mobilisiert wurden. Auch die Assistenten sind weg. Nicht nur die Produktion, sondern die ganze Volkswirtschaft kommt so langsam zum Erliegen. Ein Großteil dieser Mobilisierten wird nie wieder zurückkommen. Die werden in der Ukraine als Kanonenfutter sterben. Dafür werden sie ja mobilisiert: um kurzfristig die Front zu stopfen, während die regulären russischen Truppen sich eingraben.
Es gibt viele Berichte über schlecht ausgerüstete Soldaten. Was ist da schiefgelaufen?
Da spielt die Korruption in Russland eine entscheidende Rolle. Es ist ja nicht so, dass Russland keine Uniformen produzieren könnte …
…, sondern?
Sagen wir mal, das russische Verteidigungsministerium schickt im Jahr 2021 zwei Millionen US-Dollar an einen korrupten Provinzfunktionär. Dieser soll nun in seiner eigenen Fabrik Uniformen herstellen. Was glauben Sie, was der mit den zwei Millionen macht?
Sagen Sie es mir.
Entweder werden die Uniformen niemals produziert. Oder wenn doch: Dann hat der korrupte Provinzfunktionär ein Lagerhaus voll mit Uniformen. Jetzt gibt es auf der ganzen Welt Bürgerkriege – in Afrika und Syrien etwa. Da kommt dieser bestimmt auf die Idee, die Uniformen zu verkaufen. Es ist weniger eine Produktionsproblematik, es sind viel mehr die alten Probleme von Korruption und Ineffizienz, die im System Putin auf die Spitze getrieben wurden.
Sie bezweifeln also, dass Russland jetzt den Schalter umlegen und das nötige Kriegsmaterial produzieren kann?
Mit einem solch korrupten System können sie keine verlässliche Produktion organisieren. Schon gar nicht für so einen riesigen Bedarf. Jetzt auf die Schnelle 300'000 Winteruniformen herzustellen, ist völlig illusorisch. Bis die Produktion endlich herauskommt, sind die Leute schon tot. Das klingt zynisch, aber das ist momentan die Realität. Deswegen wird sich der Winter auch eher für die Ukraine auswirken, trotz der russischen Angriffe auf das Stromsystem.
Bachmut: Ein ukrainischer Soldat feuert einen Mörser auf russische Stellungen.Bild: AP / Libkos
Sie sprechen es an. Der Winter ist auch in der Ukraine angekommen. Nachts steigen die Temperaturen vielerorts nicht mehr über den Gefrierpunkt. Keine guten Aussichten für die schlecht ausgerüsteten Russen …
Ja, die Mobilisierten werden zu einem großen Teil sterben. Das muss man leider so offen sagen.
Ist da mit einem größeren Aufstand der Zivilbevölkerung zu rechnen?
Nein, das glaube ich nicht. Es hat noch nie in der russischen Geschichte einen zivilgesellschaftlichen Umbruch gegeben. Umbrüche in Russland kamen immer von Gegeneliten.
Sprechen wir kurz über die russische Elite. Wie hart treffen die Sanktionen die Oligarchen?
Sofern sie nur im Rohstoffgeschäft tätig sind, treffen sie die Sanktionen noch nicht so hart. Wenn der Westen jetzt auch noch den Export von Rohstoffen sanktioniert, werden es aber auch sie deutlich zu spüren bekommen. Und da könnte bald Bewegung ins Spiel kommen. Nehmen wir das Beispiel Gazprom-Bank.
Erklären Sie!
Die Gazprom-Bank ist bis heute nicht sanktioniert, weil der Westen eine Zahlstelle braucht, über die das Gas-Geschäft mit Russland abgewickelt wird. Jetzt hat sich die Lage in den vergangenen Monaten aber deutlich geändert. Es gibt nämlich kaum mehr Gas-Geschäfte mit Russland. Es kommt fast nichts mehr in Europa an. Nord Stream 1 und 2 sind zu, die Jamal-Pipeline ist zu; es bleibt nur noch der Transit durch die Ukraine. Geht auch dieser zu, fällt das Gas-Geschäft mit Russland ganz weg und Europa kann die Gazprom-Bank sanktionieren. Dies würde auch die Rohstoff-Oligarchen empfindlich treffen.
"Die Oligarchen lebten bisher immer nach dem Motto: Ich verdiene zwar mein Geld in Russland, aber in dem Loch will ich nicht leben."
Finden die Oligarchen nicht ohnehin einen Weg, die Sanktionen zu umgehen?
Nein, die bekommen das deutlich zu spüren. Sie können zum Beispiel nicht mehr reisen oder auf ihr Auslandsvermögen zugreifen. Die Oligarchen lebten bisher immer nach dem Motto: Ich verdiene zwar mein Geld in Russland, aber in dem Loch will ich nicht leben. Ich lebe lieber auf meiner Jacht an der Côte d'Azur, in London oder in Paris. Aber dieses Modell funktioniert nicht mehr. Jetzt sitzen sie im traurigen und isolierten Russland herum und ärgern sich, dass sie nicht mehr in New York Party machen können.
Wie lange machen die das noch mit?
Das weiß ich nicht. Im Gegensatz zum System Jelzin haben die Oligarchen unter Putin keine politische Macht mehr. Wenn sie frech werden, kann es durchaus vorkommen, dass Menschen aus dem Fenster fallen. Das wissen die Oligarchen natürlich auch. Sie werden sich deshalb zurückhalten mit Kritik. Aber angenommen, es bildet sich wirklich eine Gegenelite, die einen Umsturz plant, könnten sie diesen allenfalls finanzieren.
Welche Person könnte denn eine Gegenelite anführen?
Das könnte Jewgeni Prigoschin sein. Das ist der Mann, der die Wagner-Söldner kontrolliert.
Und Ramsan Kadyrow?
Das glaube ich eher nicht.
Weshalb?
Die Russen verstehen sich als weißes, orthodoxes Volk. Die werden nie akzeptieren, dass ein Tschetschene eine Rolle spielt in der russischen Politik. Der innerrussische Rassismus gegenüber den ethnischen Minderheiten ist sehr stark.
Wie realistisch ist eine Machtübernahme durch Jewgeni Prigoschin?
Prigoschin hat mit seinen Wagner-Söldnern das größte Gewaltpotenzial. Das Problem ist aber: Seine Männer stehen am falschen Ort. Nämlich in der Ukraine, wo sie derzeit ziemlich dezimiert werden. Zudem sind die Wagner-Söldner stark abhängig vom russischen Militärgeheimdienst GRU. Sie bekommen von ihm Waffen und können auf dessen Basen trainieren. Angenommen, Prigoschin würde jetzt gegen Putin vorgehen, würde er diese Infrastruktur sofort verlieren. Und so viel Geld hat Prigoschin selber nicht. Daher glaube ich, dass Putin politisch noch ziemlich fest im Sattel sitzt.
Möglicher Nachfolger von Putin: Jewgeni Prigoschin.Bild: IMAGO / ITAR-TASS / Mikhail Metzel
Wagen Sie eine Prognose, wann es zu einem Umsturz kommen könnte?
Nein, das wäre unseriös. Was man aber prognostizieren kann, ist der Kriegsverlauf.
Na dann: Wir hören zu.
Die Ukrainer werden sicher eine Winteroffensive durchführen. Der Winter begünstigt Offensiven. Denn die Böden sind gefroren und die Bäume entlaubt.
Werden sie auf die Krim vorrücken?
Nein, das werden sie im Winter nicht tun. Viele spekulieren auch darauf, wann die Ukrainer bei Cherson auf das andere Ufer des Dnjepr übersetzen. Aber das müssen sie im Moment gar nicht. Ich vermute, sie werden ihre Winteroffensive in zwei anderen Bereichen durchführen.
"Verhöhnung der Kriegsopfer. Nach dem Motto: Macht mal kurz Pause, damit wir in Ruhe Fußball spielen können."
Wo?
Der eine Raum ist bei Swatowe. Das ist momentan der Brennpunkt der Donbass-Front. Denn da führt die Autobahn P66 durch. Das ist eine entscheidende Versorgungslinie für die Russen. Wenn die Ukrainer diese Straße kontrollieren, müssen sich die Russen an den Fluss Ajdar zurückziehen.
Und der andere Vorstoß?
Den werden die Ukrainer voraussichtlich im Raum Saporischschja in Richtung Melitopol vornehmen. Denn da ist die russische Front im Moment am dünnsten. Hier könnten die Ukrainer versuchen, bis zum Asowschen Meer vorzudringen. Dann hätten sie die russische Front gespalten. Das wäre ein großer Erfolg.
Bild: Deep State Map / Screenshot
Abschließend noch eine Frage zu Gianni Infantino. Der FIFA-Präsident hat einen Waffenstillstand und Verhandlungen während der Weltmeisterschaft gefordert. Was halten Sie davon?
Das ist eine Verhöhnung der Kriegsopfer. Ganz nach dem Motto: Macht mal kurz Pause, damit wir in Ruhe Fußball spielen können.
Was entgegnen Sie jenen, die jetzt Verhandlungen fordern?
Das ist das Falscheste, was man jetzt tun kann. Die ganzen Leute, die jetzt nach Waffenstillstand und Verhandlungen rufen, sind Putins nützliche Idioten. Damit gibt man Russland genau das, was es will. Nämlich eine Feuerpause. Diese würde es nutzen, um aufzurüsten und seine Stellungen zu konsolidieren. Nur, um nächstes Jahr wieder anzugreifen. Wir müssen uns eins klarmachen: Wir haben es hier mit einem aggressiven Imperium zu tun. Mit einem revisionistischen Staat, der glaubt, man könne wieder Grenzen mit Gewalt verschieben.