Gerade ist Katarina Barley durch den unterirdischen Gang gehastet, der vom Reichstag in das benachbarte Paul-Löbe-Haus führt. Von dort fuhr sie mit dem Aufzug hoch in ihr kleines Büro. Eben noch hielt sie vor vollem Haus eine Rede zum 70sten Geburtstag des Grundgesetzes und Alice Weidel von der AfD war vor ihr dran. "Das war wieder einmal pure Provokation", sagt Barley, als sie ihr Büro betritt. Nie wisse man, ob ein Konter angebracht sei, oder "einfach ignorieren".
Noch rund eine Woche muss Barley sich auf diese Weise mit der AfD herumschlagen, muss ihre dreifache Rolle durchhalten: Parlamentarierin, Justizministerin des Bundes, Spitzenkandidatin der deutschen Sozialdemokraten für Europa. Dann wechselt sie ins Parlament nach Brüssel.
Schon am Sonntag der Wahl will sie ihr Ministerium abgeben und sich aus der Bundespolitik zurückziehen. So viel ist klar.
Düstere Prognosen für Katarina Barley
Unklar ist, wie die SPD bei den Wahlen abschneiden wird, für die Barley gerade ihren Kopf auf Wahlplakaten hinhält. Die Prognosen sehen düster aus. Mehr als Platz Drei scheint nicht drin zu sein, die Zustimmungswerte liegen zwischen 15 bis 19 Prozent – je nachdem, welches Institut die Wahl-Umfrage macht. Dabei vergeht kein Tag, an dem Barley nicht vor Ort für die Sozialdemokraten und ihre Stärken wirbt. Trotzdem, bisher scheinen die Wählerinnen und Wähler wegzubleiben.
Bevor Barley weiter mit dem Zug auf einen Termin nach Bielefeld rast, hat sie noch Zeit für ein Interview mit watson. Es wird ein Gespräch über Vertrauen, über den Unterschied zwischen Prinzipien und Kompromissen und über das Rampenlicht einer Ministerin, deren Ausscheiden aus der Regierung auch ein persönliches Opfer ist.
Frau Barley, Sie müssen mir mit meiner Freundin helfen… Oha, ich versuche es gerne.
Sie ist 26, Münchnerin und stand der SPD immer nahe. Dann kam Ihr Kompromiss zum §219a, das "Werbeverbot für Abtreibung". Und dann unterstützten Sie den umstrittenen Artikel 13, der vermutlich Upload-Filter für das Internet bedeutet. Jetzt will meine Freundin Sie nicht mehr wählen. Können Sie sie vom Gegenteil überzeugen? Ich kann die Enttäuschung Ihrer Freundin verstehen, aber ich muss Ihr klar sagen: Demokratie funktioniert nicht in Schwarz-Weiß. Schwarz-Weiß sind aber die Legenden, die gerade um diese beiden Themen gestrickt werden.
Legenden? Dass unser Kompromiss zu 219a eine Niederlage für Frauenrechte bedeutet. Und, dass Artikel 13 eine Niederlage für das freie Internet bedeutet. Denn beides stimmt nicht.
Aber genauso empfinden es gerade viele junge Wählerinnen und Wähler: als Niederlage. Ich habe nach wie vor das Ziel, §219a abzuschaffen. Aber für dieses Ziel hatten wir zu dieser Zeit keine Mehrheit, auch wenn das die Opposition gerne so darstellt. Wir mussten also einen Kompromiss erarbeiten, um überhaupt weiterzukommen. Das erkläre ich auch Ihrer Partnerin: Hätten wir weiter für die Abschaffung gekämpft, wäre die Lage für Frauen jetzt schlechter. Wir haben stattdessen erreicht, dass Frauen künftig alle Informationen bekommen, die sie in ihrer Situation brauchen. Auch mussten sich die Ärztinnen und Ärzte selbst gegenseitig die Methoden des Schwangerschaftsabbruchs beibringen, wussten Sie das? Das war doch kein Zustand, und das wollen wir nun ändern. Die komplette Abschaffung des §219a wird auch noch kommen.
Wann? Wenn es eine andere Mehrheit gibt. Mit der CDU/CSU kommen wir bei dem Thema nicht weiter. Ich weiß nicht, wen Ihre Freundin wählen will, aber auch FDP und Grüne hätten den §219a in einer Regierung mit der Union nicht wegbekommen.
Wenn Ihr Kompromiss so gut war, warum kam dieser "Sieg" offenbar nicht bei jungen Wählerinnen und Wählern an? Weil es eine unangenehme Wahrheit gibt, die lautet: Demokratie ist kompliziert. Gleichzeitig scheinen Kompromisse aus der Mode gekommen zu sein. Deswegen haben im Moment eben jene Parteien Oberwasser, die alles schwarz-weiß malen. Die auch nicht regieren müssen. Ich finde es problematisch, dass man in aktuellen Debatten den „Kompromiss“ nur noch in Verbindung mit Wörtern wie „fauler“, „halbherziger“ und „notdürftiger“ findet. Ohne Kompromisse kommen wir in einer Demokratie nicht weiter.
Wen finden Sie auf Instagram besser, Katarina Barley: Söder oder Lindner?
Video: watson/Maria Pelteki
Aber manchmal gibt es vielleicht einen Kompromiss zu viel. Vielleicht hätten Sie den Fall des §219a nutzen müssen, um aus dieser Regierung auszusteigen? Wenn man einen Fall zur Prinzipienfrage machen möchte, geht das. Aber so bin ich nicht. Ich schaue mir an, wie komme ich in der Praxis zum besten Ergebnis. Wie gesagt: Wenn eine Frau bisher einen Schwangerschaftsabbruch machen wollte, war es echt kompliziert, einen Arzt zu finden. Gerade auf dem Land. Jetzt ist das anders.
War das beim Artikel 17, ehemals 13, auch so ein Kompromiss und die Angst vor dem Upload-Filter bei Netzaktivisten eine Schwarz-Weiß-Denke? Ich kämpfe schon lange gegen den Artikel 13 und habe mich dafür eingesetzt, dass er gestrichen wird. Ich habe in Brüssel erklärt, dass es damit ohne Upload-Filter nicht gehen wird. Dabei bleibt das neue Urheberrecht sinnvoll, um Künstlerinnen und Künstler zu schützen. Upload-Filter sollten vermieden werden, sie kommen aber auch jetzt schon zum Einsatz, etwa bei YouTube.
Lest hier die Reportage zum Kampf um den Artikel 17:
Genau diese Software ist für viele Fehler bekannt…. Deswegen muss es klare Regeln für den Einsatz geben. Nur bei klaren Urheberrechtsverletzungen sollte ein Upload gefiltert werden. Gibt es Zweifel, sollten Videos, Texte und Musik erst einmal hochgeladen werden dürfen, um den Fall anschließend genau zu überprüfen. Memes, Samples oder Satire muss möglich sein.
Sie haben keine Kontrolle darüber, ob ein Unternehmen wie Facebook, Twitter oder Instagram sich an diese Logik hält und nicht doch aus Vorsicht alles blocken wird. Das stimmt nicht, das liegt nicht in deren Händen. Sie müssen das Zumutbare tun, um Künstlerinnen und Künstler zu schützen. Und sie dürfen Parodien und Satire auf keinen Fall blockieren.
User fragen: Was machen Sie gegen Rechts, Katarina Barley?
Video: watson/Maria Pelteki
Twitter beweist gerade das Gegenteil. In den vergangenen Wochen wurden dutzende legitime Beiträge blockiert. Die Wut war groß. Sobald die Plattformen für die Meinungsfreiheit zuständig sind, scheint es bergab zu gehen. Keine Plattform kann sich auf Dauer einen solchen Umgang mit seinen Nutzern leisten, wie das Twitter gerade macht. Das Blocken von legitimen Beiträgen muss verhindert werden. Ich halte aber auch nichts davon, dass der Staat zu stark regulierend in Foren und Plattformen eingreift. Auch weil dann sofort der Zensur-Vorwurf im Raum steht.
Das ist diesmal etwas Schwarz-Weiß von Ihnen. Es gibt ja durchaus Vorschläge. Ein öffentlicher Aufsichtsrat etwa, der Leitlinien vorgibt und die Entwicklung von Software beaufsichtigen könnte. Ich bin für solche Vorschläge offen. Aber so eine Institution müsste noch immer zum Staat gehören. Wir haben '83 bei der Volkzählung dagegen gekämpft, dass der Staat unsere Daten bekommt. Jetzt höre ich immer öfter: Lass das nicht Facebook machen, der Staat soll eingreifen. Das ist absurd.
Zeiten ändern sich und 1983 gab es kein Facebook, das auf solch eine Weise über die Öffentlichkeit bestimmt. Nicht auf diese Weise. Kritik kann man ruhig üben. Aber noch einmal: Man muss von diesen Extrem-Szenarien weg, die die Zerstörung des Internets zeichnen.
Glauben Sie, meine Freundin ist überzeugt? Zumindest kann sie vielleicht meine Haltung besser nachvollziehen. Ich treffe mich auch gerne mit ihr und unterhalte mich darüber persönlich.
Gebe ich weiter. Ihr Wahlprogramm klingt allerdings nicht so sehr nach Kompromiss, eher nach einer Liste an Maximalforderungen: Verteilungsschlüssel für Migranten, europaweites Grundeinkommen, sogar eine EU-Armee. In den Wahlprogrammen stellen Parteien ihre Überzeugungen vor, und die sind sehr unterschiedlich. Wir Sozialdemokraten fordern einen EU-Mindestlohn, die Konservativen sind dagegen. Das ist eine klare Alternative. Nach der Wahl müssen wir dann versuchen Mehrheiten zu finden. In der praktischen Umsetzung stehen am Ende auch hier Kompromisse.
Wie? Viele Ihrer Programmpunkte kann das EU-Parlament gar nicht alleine entscheiden... Dann dürfte es keine Wahlprogramme geben, weil alleine darf das EU-Parlament gar nichts. Alles geht im Zusammenspiel mit den anderen Institutionen. Es geht darum, wie wir uns Europa vorstellen. Da greifen ja auch die einzelnen Räder ineinander. Was in unseren Programmen steht, finden wir als SPD richtig und werden das auch in Deutschland in der Regierung vorantreiben.
Ist das so? Große Ideen scheinen bei der SPD in Deutschland eher für ein „Was hat der denn geraucht“ zu sorgen, wie im Fall von Jusos-Chef Kevin Kühnert. Er dachte nur darüber nach, dass BMW seinen Mitarbeitern gehören könnte. Dann riefen auch in Ihrer Partei plötzlich alle „Enteignung“… Ich habe die Aufregung ehrlich gesagt nicht wirklich verstanden. Kevin Kühnert ist Vorsitzender unserer Jugendorganisation. Es gehört dazu, dass er sich über Grundsätzliches Gedanken macht. Danach versuchten das viele Seiten für sich zu instrumentalisieren und die Debatte heizte sich unverhältnismäßig auf.
User-Fragen: Was ist deutscher, Frau Barley: Bierwurst oder Thermomix?
Video: watson/Maria Pelteki
Wird Ihr Abschneiden in der EU entscheidend für die Zukunft der Regierung in Deutschland sein? Das liegt nicht in meiner Hand. Was sollte mein Abschneiden denn für Auswirkungen haben?
Eine heftige Niederlage wäre auch eine Niederlage für Ihre Parteichefin Andrea Nahles. Sie könnte ihren Posten räumen, die SPD-Basis könnte endgültig nach einem GroKo-Ende rufen. Revisionsklausel im Koalitions-Vertrag. Solche Dinge. Ich glaube, dass die Große Koalition rund um die Bayernwahlen herum stärker gefährdet war. Da hatte ich den Eindruck, dass unsere Regierungspartner andere Prioritäten gesetzt hatten. Aber gerade geht es vorwärts. Diese Woche haben wir etwa endlich bessere Arbeitsverhältnisse für Paketboten durchgesetzt. Das war ein Ergebnis der SPD-Arbeit in dieser Regierung. Ich bin sowieso keine Freundin von diesen: „Was wäre wenn“-Fragen. Ich habe gerade in einem anderen Artikel über mich gelernt, das liege an meinen britischen Wurzeln.
War das ein Kompliment? Es war eine allgemeine Feststellung. Die Briten machen das, was sie für richtig halten. Klar, das kann auch richtig schiefgehen. Aber dann spuckt man als Brite in die Hände, schaut sich die Sache an und fragt: Was mache ich jetzt daraus. So sehe ich die GroKo und so sehe ich diese Wahl.
Auf einer Podiums-Diskussion sagten Sie vor kurzem, der Gang nach Brüssel sei eine Erleichterung. Dort könnten sie Politik machen, ohne dauernd im Rampenlicht zu stehen wie in Berlin. Es ging darum, was ich gerne zurücklassen würde, wenn ich nach Brüssel gehe, und dann gab ich diese Antwort. Ich bin niemand, der die große Bühne braucht, um glücklich zu sein. Diese ganze Aufmerksamkeit und der Rummel um die eigene Person sind nicht immer angenehm, gerade wenn viele Fotografen nur darauf warten, dass man mal doof guckt.
Klingt, als seien Sie insgeheim doch froh, nicht mehr als Justizministerin Deutschlands auf der Bühne zu stehen? Ich bin gerne Ministerin. In den letzten Tagen kommt richtig Abschiedstimmung auf. Meine berufliche Erfahrung war eine sehr gute Basis für das Amt, deswegen ist da schon auch Wehmut. Und zur Bühne: Meistens unterstellt man ja Politikern, sie könnten diese Aufmerksamkeit nicht loslassen. Das Blitzlichtgewitter und die Bodyguards. Aber so bin ich nicht. Ich sitze gerne auch mal ungeschminkt am Bahnhof und hab meine Ruhe.
Diese Ruhe bedeutet auch einen Karriere-Abstieg… An so etwas habe ich keinen Gedanken verschwendet. Je mehr Europa zum Feindbild für viele Gruppen wird, desto mehr macht die Gemeinschaft mir Sorgen. Europa braucht jetzt die überzeugtesten Europäerinnen und Europäer. Dazu zähle ich ganz sicher.
Was gedenken Sie also zu tun? Ich will beeinflussen, wie sich der Brexit weiterentwickelt, was mit Polen und Ungarn passiert. Und wenn wir jetzt nach Österreich schauen und was dort los ist. Ich meine nicht nur den Video-Skandal selbst. Dort regierte ein Innenminister, der gute Kontakte zu Rechtsextremisten unterhält und gleichzeitig für die Sicherheit zuständig war. Vor dem Skandal war das aber kaum Thema. Ich bin froh, dass all diese Verfehlungen der FPÖ jetzt die nötige Aufmerksamkeit erhalten.
Viele fürchten, dass rechte Parteien in Europa dennoch um die 20 Prozent holen werden. Um das zu verhindern, müssen alle Menschen wählen gehen.
Sie selbst werden in Zukunft ganz ohne Scheinwerferlicht gegen diese Leute arbeiten müssen… Dafür und für ein soziales Europa trete ich an.
Aber genau deshalb müssen Sie doch junge Wählerinnen und Wähler wie meine Freundin auch gefühlsmäßig zurückholen. Das kommt wieder das Britische in mir hoch: Ich kann nur einen kleinen Teil leisten, aber was ich kann, will ich tun. Es ist immerhin das erste Mal, dass eine Bundesministerin tatsächlich nach Europa geht. Und da horchen viele Leute schon einmal auf. Sie merken, da geht es mir um mehr, als nur Karriere und meinen Posten.
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