Der Extremismus-Experte und Buchautor Ahmad Mansour ist Anfeindungen im Netz ausgesetzt. Auch sein Privatleben ist ohne Personenschutz nicht vorstellbar. Was der jüngste Shitstorm mit ihm gemacht hat, erzählt er im Gespräch mit watson.
Watson: Herr Mansour, sind Sie traurig, dass Marokko aus dem Fußballturnier geschieden ist?
Ahmad Mansour: Gerade mache ich einen Shitstorm durch, den ich in diesem Ausmaß noch nie erlebt habe. Ich habe bestimmte Verhaltensweisen der Spieler kritisiert – daraufhin habe ich heftige Kritik bekommen. Sportlich gesehen hat Marokko großartig gespielt: Und hat sehr viele Leute, die nicht nur Glück im Leben hatten, glücklich gemacht. Deshalb finde ich das eigentlich großartig.
Auf der anderen Seite merke ich, wie sehr diese Mannschaft instrumentalisiert wird – für Werte, die ich nicht gut finde. Zusätzlich habe ich einen sehr ambivalenten Bezug zum Spiel. Ich habe sowieso zum ersten Mal in meinem Leben die Fußball-Weltmeisterschaft mit Distanz beobachtet und war nicht wirklich emotional dabei.
Ihre Kritik bezog sich auf dieses Mannschaftsbild der Marokkaner, auf dem die Spieler mit Palästina-Flagge posierten.
Die Flagge an sich ist nicht problematisch. Wenn man aber schaut, was mit diesen Bildern gemacht wird, wer sie nutzt, mit welchem Wording dieses Bild weitergegeben wird – dann ist das definitiv ein Statement gegen die Politik von Marokko, gegen die diplomatischen Beziehungen mit Israel. Ich finde es auch problematisch, dass in Katar Israelis eingeschüchtert, teilweise auch bedroht wurden. Dass die Sicherheitsapparate in der Lage waren, jede Israel-Flagge im Stadion zu identifizieren und die Leute rauszuschmeißen. Bei den Palästinensern wurde ein ganz anderer Maßstab angelegt. Genau das kritisiere ich.
Was genau meinen Sie mit Ihrer Kritik an der marokkanischen Mannschaft?
Dass sie sich von Katar instrumentalisieren lässt – gegen die marokkanische Regierung und das Königshaus. Diese einseitige Sympathie mit den Palästinensern ist nicht nur eine Sympathie mit den kleinen Menschen, die jeder nachvollziehen könnte. Sondern es wird große Politik gemacht – auf dem Rücken der Fußballer.
Marokko pflegt diplomatische und friedliche Beziehungen zu Israel. Katar ist gegen diese Beziehungen. Jetzt nutzt das Land die marokkanische Mannschaft, um Stimmung gegen Israel zu machen. Dieses Statement oder die Kritik will Katar in Richtung marokkanisches Königshaus schicken. Das finde ich problematisch.
Was ist denn daran problematisch?
Nicht, wie die Spieler sich verhalten, sondern wie das in den sozialen Medien und von religiösen Fundamentalisten genutzt wird: diese Verehrung der Mutter – deshalb auch der Shitstorm. Man kann seine Mutter respektieren, man kann sie küssen, man kann mit ihr auch feiern.
Aber: Die Bilder werden gerade überall in sozialen Medien genutzt, um die Mutter als etwas heiliges Unantastbares darzustellen, dass Kinder in manchen Kulturen kaum Möglichkeiten haben, sich von den Eltern abzulösen, dass man keine Kritik an bestimmten autoritären Erziehungsmethoden üben dürfe – wie ich das gerade mitbekomme. All das sind meine Kritikpunkte an der Instrumentalisierung der Mannschaft.
Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Tweet, zu diesem Kuss des Spielers auf die Stirn seiner Mutter, missverstanden wurde?
Ja, er war nicht eindeutig, nicht genug erklärt und das ist meine Verantwortung. Aber dennoch: Die Reaktionen darauf bestätigen eigentlich meine These. Es ging mir wirklich nicht darum, zu sagen, liebt nicht eure Mutter oder küsst sie nicht, oder alles, was die marokkanische Mannschaft tut, als problematisch darzustellen.
Ich wollte diese Verehrung, diese kritiklose Art, diese Unantastbarkeit von Müttern, als einen Impuls zum Nachdenken darstellen. Die Kehrseite dieser wunderbaren Verehrung ist aggressiv zu reagieren, wenn die Mutter beleidigt wird, die Fixierung auf die Verteidigung der Ehre. Ich würde es heute vielleicht anders schreiben. Und ehrlich gesagt, ich hätte das mit dem Wissen von heute gar nicht geschrieben, weil ich einfach keine Lust habe auf diesen Shitstorm.
Der Shitstorm ist heftiger als frühere, die sie erlebt haben. Was machen Sie mit diesen Hass-Nachrichten?
Ich habe sie veröffentlicht. Und das tue ich nicht oft. Aber dieses Mal wollte ich denjenigen, die sich gemein machen mit Islamisten, die mich bedrohen, den Spiegel vorhalten. Ich wollte zeigen: "Guckt mal, mit wem ihr gemeinsame Sache macht." Die Hass-Nachrichten, die ich bekomme, und wir reden von Hunderten seit Mittwochabend, sind längst beim Landeskriminalamt.
Was passiert dann damit?
Ich führe jede Woche Dutzende von Anzeigen gegen Drohungen. Und ich mache oft die Erfahrung: Spätestens, wenn sie ein Schreiben vom der Staatsanwaltschaft bekommen, melden sie sich per E-Mail oder sogar deren Vater per Telefon, und entschuldigen sich. Die machen auf Rambos, aber wenn es hart auf hart kommt, sind sie nicht so.
Trotzdem: Vor allem, wenn man meine Familie bedroht, wenn man meinen Kopf abhaben will, dann glaube ich, kann kein Mensch kalt bleiben. Solche Dinge schlagen mir auf den Magen, sie erschüttern mich, bringen mich zum Nachdenken. Sie bewegen mich dazu, mir die Frage zu stellen, ob es sich noch lohnt, sich so einzumischen in diese Diskussionen. Und ob überhaupt noch eine Diskussion möglich ist.
Aber diesen Schluss ziehen sie nicht?
Nein. Ich habe Personenschutz. Ich kann nicht aus dem Haus gehen, ohne dass ich die Polizei vorher anrufe und abgeholt werde. Bei öffentlichen Terminen sind das wirklich viele Leute, die für meine Sicherheit sorgen. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber ehrlich gesagt: Ich würde mir wünschen, dass mein Leben ganz andere Entwicklungen genommen hätte. Dass ich mit meiner Familie in absoluter Anonymität leben kann. Dass ich in Neukölln Falafel oder Humus essen gehen darf, dass ich mich auf der Straße frei bewegen kann, ohne mich ständig umschauen zu müssen.
Aber das ist eine Entscheidung, die ich bewusst getroffen habe. Es waren Prozesse, die sehr deutlich dorthin gezeigt haben, wo die Reise hingeht und welche Nebenwirkungen eine öffentliche Aussage mit sich bringt. Ich bin aber noch nicht dort angelangt, wo ich sage, ich mache das nicht mehr. Zweifel habe ich viele. Vor allem, seit ich Vater geworden bin. Seit ich nicht nur für mich verantwortlich bin, sondern auch für meine Tochter. Die Momente, in denen ich Zweifel habe, sind häufiger geworden.
Sie bereuen es also nicht, diesen Schritt gemacht zu haben.
Auf die Metaebene, nein. Aber im Alltag, ja. Jeden Tag.
Herr Mansour, nun ist ihr Hauptthema nicht Fußball, sondern die Bekämpfung von Antisemitismus. Es hat jüngst in mehreren Städten Anschläge beziehungsweise Anschlagsversuche auf Synagogen gegeben – in Essen, in Bochum, in Dortmund, auch in Berlin. Wie muss Deutschland reagieren?
Was mich stört ist, dass man nicht darüber gesprochen hat, woher diese Versuche kommen. Laut Medienberichten sollen irgendwelche regimetreuen Attentäter aus dem Iran dahinterstecken. Viele in Europa wissen gar nicht, wie viel Iran gerade versucht, um vor allem jüdische oder israelische Menschen anzugreifen. Es gab während Ostern eine unfassbare Entwicklung in Istanbul, wo man in der allerletzten Minute Entführungen von Israelis verhindert hat.
Und ich frage mich, warum man das nicht so deutlich benennt und warum man das nicht zum Thema macht. Und warum Iran immer noch ein wirtschaftlicher Partner für Deutschland ist. Trotz all dieser Entwicklungen. Wir tun nicht genug, um das sichtbarer zu machen. Und wir tun nicht genug, um die Verantwortlichen und die Hinterleute zu identifizieren und als Terroristen, was sie sind, darzustellen.
Hat Antisemitismus in Deutschland zugenommen?
Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das hat sehr unterschiedliche Gründe. Zum einen sind rechtsradikale Bewegungen enorm stärker geworden. Auf der einen Seite inszeniert sich Trump als Freund Israels, auf der anderen Seite toleriert und fördert er Verschwörungstheoretiker und Antisemiten. Wir haben die AfD, wir haben andere rechtsradikale Bewegungen, die Antisemitismus fördern.
Wir haben muslimischen Antisemitismus, der nicht zugenommen hat, aber sichtbarer geworden ist. Und überall dort, wo postkoloniale Sichtweisen, BDS ("Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" –Sammelbegriff für antisemitische Kampagne, Anm. d. Red.) und Kapitalismuskritik vorherrschen, haben wir auch eine antisemitische Dimension, die teilweise von Tag zu Tag massiv zunimmt. Das heißt, wir haben multiethnische, multisoziale Entwicklungen, die leider alle zugunsten von Antisemitismus funktionieren.