Der neue Heimatminister Horst Seehofer hat gleich zu Beginn mit einem Interview für Aufregung gesorgt, in dem er sagte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Viele Linke sahen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Heimat zu betonen, glauben sie, führe zu Deutschtümelei und Ausgrenzung.
Andere halten es für richtig, ja sogar für wertvoll, über Heimat zu sprechen. Im Interview mit t-online.de hat bereits Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow erklärt, er wolle sich Heimat "von keinem Nazi wegnehmen" lassen.
Jetzt erzählt Robert Habeck, wieso er ein Heimatministerium allein für "lächerlichen Bullshit" hält, aber trotzdem für "Heimat" kämpft. Und er macht konkrete Vorschläge für einen linken Konservatismus, der die Verunsicherung vieler Menschen lindern soll.
Herr Habeck, seit dem Herbst ist "Heimat" ein großes Thema. Ich möchte verstehen, was die politische Linke mit "Heimat" anfangen kann. Eine Bemerkung vorneweg: Ich will dem Begriff auf den Zahn fühlen, nicht Ihnen. Ich bin darauf angewiesen, dass Sie mitmachen. Einverstanden?
Robert Habeck: Einverstanden.
Warum reden wir seit dem Herbst vermehrt über Heimat?
Präziser wäre zu sagen, seitdem ist Heimat in die vorderste Reihe der politischen Berichterstattung eingezogen. Das hat mit der Bundestagswahl zu tun, die Fragen nach Halt, Orientierung und der Instabilität des Parteiensystems aufgeworfen hat. Offenbar gibt es eine Sehnsucht: Über Heimat reden immer die, die Halt suchen.
Das ist auch meine Beobachtung. Auslöser war vor allem das AfD-Ergebnis.
Die AfD hat die politische Landschaft in Unruhe versetzt. Aber ihr Erfolg ist selbst nur Symptom eines Zustands.
Nämlich welchen Zustands?
Das Vertrauen, dass die Politik die Probleme lösen kann, ist brüchig geworden. Es gibt ein Gefühl, dass die Politik den Krisen der Zeit atemlos hinterherläuft. Die Suche nach Antworten endet bei den Rechts- und teilweise Linksnationalisten dann in einer puren Fiktion, nämlich in einem "Früher war alles besser".
Ein verbreiteter Befund der vergangenen Monate lautet, dass der Unterschied zwischen Stadt und Land wieder sichtbar wurde. Das Land wählte Trump, den Brexit, Norbert Hofer. Haben wir es mit einem Stadt-Land-Konflikt zu tun, in dem "Heimat" ein Zugeständnis an das Land sein soll?
Das Gefühl der Heimatlosigkeit hat nicht nur mit den Lebensbedingungen im ländlichen Raum zu tun.
Neben Alltagsproblemen geht es um fehlende Anerkennung. Der Mittlere Westen hat vor allem Trump gewählt, weil schon die Sprache diskreditierend war. Da war die Rede vom "Rust Belt" und dem "Fly-over Country".
Also Gegenden jenseits der urbanen Zentren, die vor sich hinrosten, über die man auf dem Weg von Metropole zu Metropole hinweg fliegt, weil dort nichts ist.
Genau. Warum ist die AfD in Teilen Ostdeutschlands so stark? Weil es bisher nicht gelungen ist, zu sagen, wir sehen eure Probleme und eure Lebensleistung.
Was bei den Leuten ankam, war: Ihr seid nichts wert. Ähnliche Erfahrungen haben übrigens auch Menschen im Ruhrgebiet gemacht. Es ist eben nicht alles gut, nur weil die Bürgersteige vernünftig gepflastert sind. Die Verunsicherung geht viel tiefer, die hat etwas mit technischen Entwicklungen und politischen Systemen zu tun, die sich völlig neu formatieren.
Was genau meinen Sie?
Zum einen ist die alte globale Ordnung zusammengebrochen. In Syrien kämpfen Nato-Partner gegeneinander. Iran und Israel gehen aufeinander los und keiner scheint einen Plan zu haben. Russland bricht auf der Krim und in Syrien Völkerrecht, und wird trotzdem von Deutschland mit dem Bau der russischen Gas-Pipeline hierher hofiert. Die Lage heute ist viel unübersichtlicher als im Kalten Krieg.
Ich habe den Eindruck, dass aus der Tatsache, dass der Weltenbrand ausblieb, unzulässig gefolgert wird, dass im Kalten Krieg alles stabil war. Wird da nicht viel nachträglich verklärt?
Der Kalte Krieg mit seinem Wettrüsten ist zum Glück überwunden. Aber es ist nicht gelungen, aus den Hoffnungsjahren nach der Wende eine stabile neue Ordnung herzustellen. Daher kommt diese ganz große Unruhe.
Sie wollten noch ein Beispiel für technische Entwicklungen geben, die Menschen verunsichern.
Es fehlt fast die Sprache, um das zu beschreiben, aber wenn ich mir über Google Maps einen Weg anzeigen lassen, werden meine Daten Teil eines ökonomischen Szenarios: Welche Wege gehe ich? In welche Schaufenster gucke ich? Man kann über die biometrische Erfassung meiner Facebook-Freunde ausmessen, welche Gesichtstypen ich mag und mir vorschlagen, wen ich kennenlernen sollte. Da wird das Privateste manipulierbar. Das spüren die Menschen.
Das klingt einerseits plausibel – andererseits aber arg nach Psychoanalyse. Ich würde behaupten, dass solche Beeinflussung durch neue Technik den meisten Menschen nicht sehr bewusst ist.
Ich erkenne schon ein Unbehagen bei der Vermessung des Privatesten – nur ist die Verlockung durch die Angebote der Netzwelt zu groß.
Der Begriff ist eine Projektion. Schon die Vertreibung aus dem Paradies im Alten Testament ist das Urbild für die Sehnsucht nach einem Ort, der Glückseligkeit verspricht.
Den gibt es aber nicht.
Nein. Aber die Sehnsucht danach wird in Exilmomenten dringend. Das Konzept Heimat ist in der deutschen Romantik entstanden. Da gab es auf einmal Industrie, Kohleminen und Eisenbergbau, Stromtrassen und Schienenfabriken – und Landflucht. Also haben deutsche Dichter die Landschaft überhöht.
Später wurde "Heimat" zu einem wichtigen Begriff des Nationalsozialismus – und ist es unter Neo-Nazis bis heute.
Ja, der Begriff wurde so verhunzt und wird es noch heute. Man schreibt Heimat in Fraktur auf die Bomberjacke und jagt Ausländer mit Baseballschlägern. Das ist unerträglich. Aber im Kern geht es um den Traum von einer besseren Welt. Ich glaube nicht, dass das nur in Medien stattfindet, sondern dass das eine Tiefenströmung in der Gesellschaft ist.
Sie haben zwei Möglichkeiten: Entweder dieses Gefühl in andere Begriffe zu packen. Oder sich den Begriff "Heimat" anzueignen. Sie plädieren für zweiteres. Warum?
Wenn wir Begriffe aufgeben, nur weil andere sie benutzen, dann verlieren wir die Möglichkeit, Wirklichkeit zu beschreiben. Die Auseinandersetzung um die Bedeutung von Begriffen ist der Kern von Politik. Wenn man nicht engagiert um Deutungshoheit kämpft, gibt man Begriffe auf – und damit Politik.
Ich glaube, es gibt ein Problem jenseits der historischen Beiklänge. Heimat ist etwas Individuelles, oder?
Heimat hat etwas mit meiner Kindheit zu tun, Heimat ist Geborgenheit oder Liebe:
Heimat ist außerdem unveränderlich. Sonst gäbe es nicht das eigene Wort "Wahl-Heimat" in Abgrenzung zur eigentlichen Heimat. Was aber soll Politik mit einem Konzept, das nicht verfügbar ist für gesellschaftliche Gestaltung?
In einem sehr engen Sinne ist Heimat nicht verfügbar. Zu sagen, mit einem Abteilungsleiter Heimat im Innenministerium ist das Problem gelöst, verballhornt die ernste Diskussion. So ist ein Heimatministerium lächerlicher Bullshit.
Und trotzdem wollen Sie am Heimatbegriff festhalten?
Ja, denn Politik ist nicht nur, was im Amtsblatt steht, sondern auch die gesellschaftsphilosophische Auseinandersetzung mit der Welt.
Man könnte trotzdem andere Begriffe probieren, die weniger negativ konnotiert sind und weniger widersprüchlich. "Zuhause" zum Beispiel. Warum hängen Sie so am Begriff "Heimat"?
Weil er ein utopisches Potential hat.
Aber gerade darin liegt auch der Reiz. Ich kämpfe für diesen Begriff, weil der Politik das Utopische fehlt. Es gibt ein Heimweh nach einer Politik, die mehr ist als das Durchwursteln durch das Tagesgeschäft.
Wie finden Sie diesen Vorschlag: Heimat ist dort, wo man die Besteckschublade einräumen und die Abkürzung zum Badesee nehmen kann. Abstrakter: In der Heimat kennt man sich aus, ist handlungsfähig und von der eigenen Selbstwirksamkeit überzeugt.
Wenn es in die Zukunft gerichtet ist, bin ich dabei. Heimat wäre dann das Zukunftsversprechen, dass wir wieder die Abkürzung zum Badesee nehmen können. Dass wir uns handlungsfähig fühlen.
Bleibt die große Frage: Was kann Politik tun, um da hin zu kommen?
Die Abkürzung zum Badesee steht ja für Vertrauen und das hat viel mit Beziehungen zu tun. Der Umgang von Menschen mit Menschen darf nicht der Ort großen Stresses sein. Wir haben ein riesiges Problem, wenn eine Pflegerin für einen Patienten nur zweieinhalb Minuten hat; wenn Lehrerinnen sich nicht um alle Kinder kümmern können; wenn Freundschaften handelbare Ware werden.
So ist es oft aber. Was also tun?
Wir müssen wegkommen von der Idee, dass nur wertvoll ist, was einen Preis hat. Die Aufgabe ist, postmaterielle Güter in politische Konzepte zu übersetzen.
Konkret!
Alle sollen fleißig sein, wieso nicht; aber wir müssen uns ein Sozialsystem jenseits von Hartz IV überlegen, das die Würde von Menschen nicht davon abhängig macht, wie erfolgreich sie im Berufsleben sind. Wir brauchen mindestens Garantiesysteme in Phasen, in denen Menschen nicht im Wettbewerb zur Erwerbsarbeit stehen: im Alter, Kinderzeiten, Bildungszeiten. Aber die Zeit verlangt mehr: Ganze Branchen brechen plötzlich weg, Lebenswege werden fragiler. Daher werden wir auch darüber diskutieren, ob es nicht eine Garantiesicherung für Erwachsene braucht, die dann bei der Steuer als zusätzliches Einkommen versteuert wird.
Und in der Arbeitswelt selbst?
Arbeit ist für die allermeisten Menschen nicht nur eine Frage von Geldverdienen, sondern auch vom Platz in der Welt. Deshalb müssen die Löhne faktisch steigen. Zudem sollten wir Arbeit von den hohen Kosten entlasten. Im Gegenzug sollten wir das, was der Umwelt schadet wie CO2, Plastik, Pestizide besteuern. Damit würde auch die Arbeit von Menschen mit Menschen attraktiver.
Warum würde sie das?
Wenn Arbeitskraft billiger wäre, ohne dass die Menschen weniger verdienen und weniger soziale Sicherheit haben, könnte man mehr Pfleger einstellen und ihnen mehr Zeit geben.
Man könnte als Dienstleister auch einfach Geld sparen.
Das lässt sich regulieren. Im Bundesrat haben wir zum Beispiel gerade eine Personaluntergrenze für Pflege gefordert, damit so etwas nicht passiert. Eine andere Idee: Mobilität muss nicht kostenlos sein, aber so günstig, dass sie sich jeder leisten kann. Da löst sich dann der Wunsch nach der Vertrautheit im Umgang mit Wegen ganz unmittelbar ein.
Klingt alles erstaunlich links, nur jetzt mit dem Label Heimat.
Es geht darum, wieder Geborgenheit und Vertrauen zu schaffen, Familie, Glück, Liebe und Freundschaft Raum zu geben. Ich will, dass es in der Gesellschaft wieder fairer zugeht, öffentliche Güter und Kapital für die Menschen da sind, nicht umgekehrt. Das könnte man einen linken Konservatismus nennen. Jedenfalls ist es eine echte Antwort auf Verunsicherung.
Nun zeigen alle Studien, dass Grüne und AfD voneinander so weit entfernt sind wie keine anderen Parteien. AfD-Sympathisanten würden sich eher die Hand abhacken, als grün zu wählen. Was also erreichen Sie mit Ihrer Heimatpolitik?
Uns geht es darum, ein politisches Angebot für die Breite der Gesellschaft zu machen. Stramme Rechtsnationalisten werde ich damit sicher nicht erreichen.
Das ist ein Riesenaufgabe, aber genau die, die ansteht. Gerade wenn man sieht, wie eruptiv die Politik geworden ist.
Eruptiv? So eine Großthese müssen Sie belegen.
Nehmen wir den Hype um die Piraten, das Auf und Ab von Martin Schulz und den Absturz der SPD. Trotzdem müssen wir versuchen, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, auch wenn das vielleicht nicht beim ersten Versuch gelingt. Wir müssen versuchen, ein Feuer für eine progressive links-liberale Bewegung zu entfachen. Und es am Laufen zu halten.
Herr Habeck, wir danken für das Gespräch.
Dieser Text ist zuerst auf t-online.de erschienen.