Als am Wochenende hunderte Klima-Demonstranten einen Tagebau von RWE in Aachen stürmten, machten die Bilder von umstellten Besetzern die Runde. Um die Situation zwischen Aktivisten und Polizisten zu beruhigen, stimmte RWE zu, sogenannte "Parlamentarische Beobachter" auf das Gelände zu bringen.
Einer davon war Erik Marquardt, ehemaliger Sprecher der Grünen-Jugend und frisch gewählter Europa-Abgeordneter. Im Anschluss an das Wochenende erhob er auf Social Media schwere Kritik gegen die Polizei und RWE und bekam dafür einen regelrechten Shitstorm. Vor allem von rechten und konservativen Meinungsmachern.
Im watson-Interview erklärt er, was eigentlich genau im Kessel von Aachen schiefgelaufen ist, dass viele Lügen über die Klima-Demos vom Wochenende verbreitet würden und warum zertrampelte Rüben-Felder nicht das Problem sind.
watson: Herr Marquardt, Sie haben der Polizei auf Twitter vorgeworfen, Demonstranten auf dem RWE Gelände festgehalten, sich dann aber nicht um diese gekümmert zu haben…
Erik Marquardt: Richtig, die Behörden haben Hunderten Menschen die Freiheit entzogen, sie durften sich nicht mehr frei bewegen. Keine halbe Stunde lang, sondern bis zu 20 Stunden. Wenn die Polizei sich zu so einem Schritt entscheidet, dann hat sie auch die Verantwortung für die Versorgung der Personen.
Kritiker würden einwenden: Erst zertrampeln Aktivisten Felder, dann üben sie Gewalt gegen Polizisten aus, verschafften sich illegal Zugang zu Privatgelände. Und jetzt beschwert sich ein Herr Marquardt darüber, dass es nach der Festsetzung keinen anständigen Service gab?
Das ist ein Versuch, den Protest zu delegitimieren. Wenn man aber von der Polizei für so lange Zeit festgehalten wird, dann muss sie die Versorgung übernehmen. Das ist keine Forderung nach Luxus, hat auch nichts mit Service zu tun. Das sind rechtstaatliche Prinzipien in einem politisch umkämpften Bereich. Man setzte die Leute fest, um deren Identität festzustellen. Im Polizeigesetz steht, das darf nicht länger als zwölf Stunden dauern. Wenn daraus dann 20 Stunden ohne Verpflegung werden, ist das keine Kleinigkeit.
Aber die Demonstranten haben sich ja selbst in diese Situation begeben.
Es geht im Fall der Besetzung des RWE-Geländes noch immer "nur" um den Vorwurf des Hausfriedensbruchs. Natürlich kann man den kritisieren, aber den Besetzern stehen trotzdem Rechte zu.
Sie waren als Beobachter vor Ort, wie lautet Ihre Erklärung dafür?
Es gab komplizierte Entscheidungswege im Hintergrund und diese verhinderten eine einfache Lösung der Situation. Ich hatte das Gefühl, dass die Polizisten vor Ort das alles selbst nicht gut hießen.
Das müssen Sie erklären…
Die Einsatzkräfte waren müde und haben viel länger gearbeitet, als sie eigentlich sollten. Teilweise hatten sie schon eine Nachtschicht hinter sich. Diese Beamten hatten eigentlich schon recht früh in der Nacht das Angebot gemacht, dass die Demonstranten den Tagebau gesammelt verlassen können. Sie sollten zustimmen, freiwillig zu gehen, dann hätte man sie aus dem Tagebau geleitet. Und die Besetzer stimmten zu. Die Situation wäre für alle Beteiligten früh und friedlich gelöst worden.
Aber?
Der Einsatzleiter der Polizei in Aachen stimmte dem Angebot seiner eigenen Leute plötzlich nicht mehr zu, sondern wollte dass die Identitäten festgestellt werden. Dabei hatte die Polizei dafür schlicht keine Kapazitäten. Dann haben wir erst einmal vier Stunden auf einen Bus gewartet, der dann wieder nur tröpfchenweise 29 Personen zur Identitätsfeststellung gebracht hat.
Ärgerlich ja, aber der Einsatzleiter hat durchaus das Recht, so zu entscheiden…
Die Maßnahme an sich kritisiere ich auch nicht. Aber man kann schon fragen, ob dieses Hin- und Her sach- und zeitgemäß ist, wenn man damit hunderte Menschen einen Tag lang in ein Erdloch einsperrt – und man sogar die eigenen Beamten damit überrumpelt. Einige der Einsatzkräfte im Kessel waren selbst so sauer, die haben uns empfohlen gegen den Vorgang zu klagen.
Hielten die eingesperrten Demonstranten das alles durch?
Sie waren genervt. Die Leute hatten dem ersten Angebot ja zugestimmt und dann passierte nichts. Am Boden war die Stimmung gegen zwei Uhr. Dann hieß es, dass die Leute nicht raus dürfen, weil RWE den Strafantrag aufrechterhalten wolle. Man muss sich das so vorstellen:
Und dann kam auch noch die ganze Nacht dazu. Kein Essen, wenig Wasser, zum Glück hatten sich einige Demonstranten gut eingedeckt. Die "Ende Gelände"-Organisatoren wollten auch Verpflegung bringen, wurden aber nicht durchgelassen.
Nicht durchgelassen?
Auch hier hatten die Polizisten vor Ort eigentlich zugestimmt. RWE aber sagte: 'Nein, das ist nicht erlaubt, dass hier Essen in den Tagebau gebracht wird'. Auch diese Verhandlungen dauerten vier Stunden, bis die 'Ende Gelände'-Leute dann unverrichteter Dinge wieder wegfahren mussten.
Klingt nach einem ziemlich bürokratischen Fuck-Up.
Kann man sagen. Wenn mich jetzt rechte und konservative Kommentatoren dafür kritisieren, dies anzusprechen, kann ich nur sagen: Der Gedanke 'Die Demonstranten müssen da bestraft werden' ist kein rechtsstaatlicher, sondern ein wutbürgerlicher.
Aber sagen das wirklich so viele? Das klingt nach einer dieser Twitter-Diskussionen, die in einem kleinen Kosmos stattfinden.
Wir haben schon eine sehr aufgeheizte Stimmung im Moment. Da regen sich Leute auf der einen Seite über die Demonstranten von "Ende Gelände" auf. Auf der anderen sagen sie, dass Menschen im Mittelmeer nicht gerettet werden sollen, weil die sich doch selbst in Gefahr gebracht hätten. In so einer Stimmung haben wir Vernünftigen doch die Aufgabe zu sagen: Wenn jemand im Mittelmeer in Not ist, dann ist das kein Migrant, sondern ein ertrinkender Mensch. Wir müssen ihn retten. Und wenn jemand Hausfriedensbruch begangen hat, dann ist der kein Schwerverbrecher. Die Polizei hat nicht die Aufgabe, ihn zu bestrafen. Im Gegenteil, sie muss sich an Recht und Gesetz halten. Ich bin nicht sicher, ob das in Aachen passiert ist.
Was ist mit den eingangs erwähnten Vorwürfen: Zertrampelte Möhrenfelder, Gewalt gegen die Polizei, Müll nach der Demo?
Bei diesen Punkten werden ja regelrecht Lügen verbreitet. Die Demonstranten seien Heuchler und hätten ihren Müll nicht mitgenommen? Es gibt bei "Ende Gelände" jedes Mal große Gruppen an Aktivisten, die anschließend Müll sammeln und wegbringen. Die Stadt Aachen hat sich nach der Demonstration am Wochenende regelrecht entzückt gezeigt, weil sie kaum was zu tun hatte.
…die Möhren?
Ich verstehe natürlich, dass man das nicht gut findet, wenn ein Feld zertreten wird. Aber das findet "Ende Gelände" auch nicht gut. Deswegen entschädigen die Organisatoren jeden, der Schaden davonträgt. Man muss sich nur melden. Das lassen diese vermeintlichen Kritiker dann gerne mal weg. Und bevor Sie nach der Gewalt fragen: Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass irgendwo etwas passiert ist. Aber überall, wo ich mich bewegte, war die Demo friedlich. Und ich habe kein einziges Video von Gewalt gegen die Polizei gesehen. Es waren eher Videos von Gewalt gegen Demonstranten, die mich etwas sprachlos gemacht haben.
Also bloße Diffamierung des Protests vom politischen Gegner?
Interessanterweise kamen die heftigsten Reaktionen doch von Leuten, die Klimaforderungen grundsätzlich kritisch sehen. Die haben schon vor den Demos entschieden, wer gut und wer böse ist. Wenn Christian Lindner nach "Fridays For Future" über die Schulpflicht reden will, hat er keine Lust auf das Thema Klima. Auch wenn Kritiker jetzt über zertrampelte Möhrenfelder reden, wollen sie das Thema Klima wieder verdrängen. Das Muster ist immer das Gleiche.
Sie fordern also?
Dass wir über die realen Probleme sprechen. Dass die Kritiker es einmal schaffen, an ihrem Schubladendenken zu rütteln. Übrigens gilt das genauso für einige Klima-Protestler. Zum Beispiel kann es durchaus sein, dass der Großteil der Polizisten bei einer Demo nur das Beste will, und nur weil einige wenige im Hintergrund Fehler gemacht haben, heißt das nicht, dass der Polizist grundsätzlich der Gegner ist. Das habe ich als Erfahrung jedenfalls einmal mehr aus dem Kessel mitgenommen. Und am Ende werden sich auch die Bauern freuen, wenn erfolgreich gegen die Klimakatastrophe protestiert wird, weil sie sonst hier bald gar keine Möhren mehr anbauen können.