Watson: Herr Umland, Putin spricht in seiner Rede, in der er den Krieg gegen die Ukraine ankündigt, von "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" – dass diese Narrative nicht der Wahrheit entsprechen, ist ausreichend belegt. Aber dennoch: Wie kann ich diese Rhetorik einordnen?
Andreas Umland: Letztlich ist es ein typisch post-imperiales Syndrom, das nicht außergewöhnlich ist und das man bei vielen ehemaligen imperialen Zentren beobachten konnte, als dann eben diese Nostalgie nach dem alten Imperium noch vorhanden war. Wir hatten das auch in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg: Sehnsucht nach den verloren gegangenen Gebieten, die dann wieder zurückgeholt oder für sich in Anspruch genommen werden sollten.
Aber ist diese Sichtweise nicht völlig überholt?
Ja, aber es werden eben irgendwelche anderen Begründungen vorgeschoben. Dass etwa eine Gefahr von der ehemaligen Kolonie ausgeht, dass, wie Putin erzählt, dort Neonazis sind und dass es Russland nur um Selbstverteidigung geht – aus dem Bereich der Psychopathologie, müsste man sagen.
Das heißt, es sind gezielt ausgewählte Lügen, die man verbreitet, um das Volk hinter sich zu stellen?
Ja, richtig. Diese Bedrohung durch Nazis ist eine alte Textur. Die Befreiung von angeblich bösen Strukturen wird als Begründung für Imperialismus geliefert. Ein Beispiel: Als sich die 14. Russische Armee 1992 in den Bürgerkrieg in Moldau einmischte, sagte der Kommandeur der Armee Alexander Lebed, man müsse dringend eingreifen, weil die Regierung in der Hauptstadt Chişinău schlimmer als die SS sei. Das war vor nun 30 Jahren, und das ist seitdem immer wieder Thema gewesen - bezüglich des Baltikums, Georgiens, der Ukraine. Es geht immer wieder um Faschismus und um die Befreiung vom Faschismus. Und quasi um die Wiederkehr des Ruhmes der Roten Armee von 1945. Nach dem Motto: Jetzt ist die russische Armee wieder mit der Befreiung vom Faschismus befasst.
Hier in Deutschland oder auch anderen demokratischen Ländern ist es leicht, solche Erzählungen zu entlarven – wir haben Zugang zu freien Medien. In Russland ist das anders. Wie ist da die Stimmung?
Da finden diese Narrative natürlich viel Anklang. Man hat dort auch keine alternativen Informationsquellen. Dort ist tatsächlich verbreitet, dass die Ukraine faschistisch sei. Und natürlich: Es gibt in der Ukraine Rechtsextremismus, es gibt eine problematische Geschichtspolitik, die die ukrainischen Ultranationalisten der Weltkriegszeit verehrt. Diese Nationalisten haben zum Teil mit den Nazis kollaboriert, allerdings auch – und das wird in Russland dann nicht erzählt – gegen die Wehrmacht und gegen die SS gekämpft, sind auch von den Nazis verfolgt worden.
Für uns in Deutschland ist dieser imperialistische Gedanke schwer nachzuvollziehen. Viele denken sich: Na ja, jetzt ist Putin total durchgedreht. Ist er denn durchgedreht?
Also wie gesagt, es ist ein post-imperiales Syndrom, das wir in Deutschland beispielsweise auch in den 1920er Jahren hatten, teilweise sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Sehnsucht nach dem alten Imperium. Das ist also keine spezifisch Putinsche Sehnsucht. Was hier noch hinzukommt: eine Vermischung von Sympathie und Antipathie für die Ukraine. Putin spricht immer wieder von "unserer Ukraine", "unseren Brüdern" – gleichzeitig verbreitet er Hass auf den ukrainischen Staat. Das ist eine Art "Narzissmus der kleinen Unterschiede" und erinnert ein wenig an den Hass zwischen Serben und Kroaten, die sich kulturell relativ nahestehen, aber dann Krieg gegeneinander geführt haben.
Was ist hier jetzt anders?
Die Dimension. Russland ist eine militärische Supermacht. Viele ziehen hier nun den Vergleich zu Hitler. Aber auch das ist etwas anderes.
Warum?
Bei Putin geht es nicht um eine Weltrevolution wie bei Hitler. Ihm geht es um die Wiederherstellung eines Imperiums.
Aber woher kommt denn dieser Wunsch danach? Das ist so unglaublich schwer nachzuvollziehen.
Das ist eine Identitätsfrage. Leute wie Putin sind als Repräsentanten einer imperialen Nation groß geworden. Und dann ist dieses Imperium verloren gegangen – jetzt ist er nur noch der Anführer eines Nationalstaates, der eben auch nicht besonders erfolgreich ist. Man könnte sogar das Ganze reduzieren auf die Frage: Warum hat es Russland nicht geschafft, für die anderen postsowjetischen Republiken attraktiv zu werden?
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir mal den Vergleich zu China. Das Land stellt ein alternatives Entwicklungsmodell zum Westen dar: mit Erfolg, Wachstumsraten und technologischem Vorsprung. Wenn es Russland geschafft hätte, so etwas wie ein osteuropäisches China zu werden, dann würde sich das alles vermutlich ganz anders darstellen. Womöglich hätte sich dann auch die Ukraine an Russland orientiert – genauso wie vielleicht der Kaukasus oder Zentralasien. Aber Russland ist unattraktiv, hat nur Energieressourcen, die es einsetzt, um Gebiete an sich zu binden. Und für die Herren in Moskau ist es ein Schock, dass diese ihnen ursprünglich unterstellten, aus ihrer Sicht zweitrangigen Völker nun ihren eigenen Kopf haben.
Sie hatten gerade die Energieressourcen angesprochen. Auf LinkedIn schrieben Sie zynisch: "Viele EU-Bürger sollten sich damit trösten, dass sie heute, wenn sie das Licht einschalten oder tanken, Putins 'Entnazifizierung' der Ukraine mitfinanzieren." Wie sollten denn europäische Staaten jetzt reagieren? Wir sind doch trotz alledem immer noch abhängig von russischen Energieressourcen…
Das hat sich in den vergangenen Monaten relativiert, als Russland den europäischen Gashunger nicht befriedigt hat. Wir haben jetzt selbst bei Gas schon Alternativen. Eine gute Sanktion wäre daher, wenn man die Pipeline Nord Stream 1, die seit 2012 in Betrieb ist, abschalten würde. Dann würde es nämlich immer noch genug Transportkapazitäten für russisches Gas in die EU geben. Das wäre dann das ukrainische Transportsystem, das seit der Inbetriebnahme von Nord Stream 1 nur noch unvollständig genutzt wird.
Was würde das nützen? Das wäre trotzdem russisches Gas...
Damit würde man die Russen und Ukrainer quasi an einen Tisch zwingen. Wenn Russland weiter Gas verkaufen will, müsste es mit der Ukraine über erhöhte Gastransporte sprechen. Gazprom braucht diese Verkaufserlöse, weil der Riesenkonzern die gesamte russische Wirtschaft und auch die privaten Haushalte subventioniert. Russische Kunden bekommen Gas zum Vorzugspreis. Das staatliche Unternehmen Gazprom benötigt hohe Einnahmen aus dem Export, um seine riesige Subventionierung der russischen Wirtschaft und Privathaushalte finanzieren zu können. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit vom Gasexport und ukrainischen Gastransportsystem hätte dann womöglich eine friedensstiftende Wirkung.