Mit großem Interesse haben viele Medien im Bundestagswahlkampf auf den Wahlkreis Suhl – Schmalkalden-Meiningen – Hildburghausen – Sonneberg in Südthüringen geschaut. Grund dafür: Die Kandidatur des umstrittenen CDU-Politikers Hans-Georg Maaßen, der hier das Direktmandat holen wollte.
In den Fokus der Aufmerksamkeit rückte dadurch auch sein Gegenkandidat: Frank Ullrich. Der Biathlon-Star in der ehemaligen DDR. Neunmal wurde er in den 1970er- und 1980er-Jahren Weltmeister, einmal Olympiasieger. Er trainierte nach seiner aktiven Laufbahn das deutsche Biathlonteam. Seit 2019 engagiert er sich politisch im Stadtrat von Suhl. Bei der Thüringer Landtagswahl 2019 verlor er das Direktmandat noch knapp an seinen Konkurrenten von der AfD. Bei der Bundestagswahl allerdings hat es geklappt: Ullrich holte sich das Direktmandat mit 33,6 Prozent der Erststimmen.
Watson hat Ullrich zum Interview getroffen und mit ihm über seinen Wahlkampf, die aktuelle Coronalage – und Sport als gesellschaftlichen Kitt gesprochen.
watson: Herr Ullrich, bei der Bundestagswahl im September dieses Jahres haben auch die Grünen dazu aufgerufen, Sie zu wählen. Haben Sie sich über die Unterstützung gefreut – oder waren Sie deprimiert, dass ein solcher Wahlaufruf in Thüringen nötig ist, um Hans-Georg Maaßen und die AfD zu schlagen?
Frank Ullrich: Ich freue mich natürlich wahnsinnig über jeden, der hilft. Ich hatte auch ein ganz starkes Team, ohne das ich es nicht geschafft hätte – dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe auch gemerkt, dass ich in meinem Wahlkreis einen großen Rückhalt habe, am Ende haben die Menschen es honoriert, dass ich jemand aus der Region bin. Als Hans-Georg Maaßen ins Spiel kam, meinten viele, dass mir seine Nominierung entgegenkommen könnte.
Sie wirken so, als wären Sie davon nicht direkt überzeugt gewesen.
Die Menschen, die ihn geholt haben, gehören auch der Werteunion an. Viele davon haben schon 2019 im Landtagswahlkampf die engere Zusammenarbeit mit der AfD gepflegt. Und ja, natürlich war ich mir nicht sicher, das muss ich ganz ehrlich sagen. Und ich bin den Grünen sehr dankbar, die dann gesagt haben, 'Wir wollen, dass die Demokratie weiterlebt'. Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich mich bei einigen Grünen bedankt.
Waren die Auswirkungen dieses Wahlaufrufs der Grünen so entscheidend?
Es geht nicht um die zwei Prozent. Es geht darum, wie man sich zueinander positioniert. Und wie man untereinander Solidarität übt. Das war für mich faszinierend, das erleben zu dürfen. Es ist ja ähnlich wie im Sport, ein gutes Team unterstützt einander und oft müssen auch andere Bereiche hinzuspringen, wenn es der Mannschaft nicht gut geht.
Wie meinen Sie das?
Wir haben das im Deutschen Skiverband oftmals gehabt, dass Mannschaften mehr unterstützt werden mussten. Es gibt die Philosophie, dass man einer Familie, in der ein Kind krank ist, hilft. Wobei man natürlich nicht sagen kann, dass wir krank waren. Die SPD hat sich doch wieder sehr stark aufgebaut.
Obwohl Sie schon länger in der Politik tätig sind, sind Sie erst in diesem Jahr den Sozialdemokraten beigetreten. Wieso haben Sie sich soviel Zeit damit gelassen?
Mein Herz schlägt für die Sozialdemokratie. Ich hatte bei einem Parteitag 2019, bei dem es um die Landtagswahl in Thüringen ging, meinen Parteiantrag schon dabei.
Aber?
Dann habe ich gesehen wie zerstritten alle untereinander waren und habe ihn wieder eingesteckt. Stattdessen habe ich mich entschieden, als Parteiloser anzutreten. Ich habe nichts gegen unterschiedliche Meinungen, aber die Debatte darf nicht so sehr ausarten, dass man in der öffentlichen Wahrnehmung als zerstritten gilt. Wie sollen Menschen einer Partei vertrauen, die schon untereinander nicht klarkommt?
Was hat sich verändert?
Beim Parteitag jetzt im Frühjahr zur Bundestagswahl habe ich gemerkt, dass sich etwas bündelt, dass gemeinschaftlich ein Ziel verfolgt wird. Das hat mir imponiert und so habe ich meinen Antrag abgegeben. Auch die Leute in Thüringen spüren: Die SPD ist wieder da.
Thüringen wird zwar rot-rot-grün regiert, trotzdem holt die AfD bei jeder Wahl viele Stimmen.
Die ostdeutsche Seele wurde nach der Wende schwer verletzt. Gerade in Thüringen, aber auch in Sachsen. Ich kann auch verstehen, dass manche getriggert werden durch die Situation und davon, dass vor 30 Jahren Leute aus dem Westen kamen und die Betriebe abgewickelt haben. Und die Anerkennung dieser Lebensleistung bespielt die AfD geschickt. Dennoch glaube ich ist es wichtig, das Stimmenergebnis der AfD in Relation zu betrachten. Bei der diesjährigen Bundestagswahl ist es der AfD kaum gelungen, über ihre Stammwählerschaft hinauszuwachsen. Erfreulicherweise ist dies der Sozialdemokratie geglückt. In weiten Teilen hat sich die Karte Thüringens rot gefärbt. Dieses Ergebnis ist Auftrag und Verpflichtung zugleich.
Wie kann die SPD dem entgegentreten?
Wir müssen jetzt den Leuten Antworten geben, müssen sie unterstützen. Vielleicht lässt sich so dann auch die Situation mit der AfD zwar nicht vollständig abwenden – aber zumindest zerstreuen. Das ist eine Verantwortung, die wir als Sozialdemokraten jetzt haben.
Sie sind ein alter Star der DDR, denken Sie, dass Sie es schaffen können, die Spaltung in Ihrem Wahlkreis zu kitten?
Genau darum geht es mir. Ich will auch, dass gerade in Orten meines Wahlkreises, die besonders AfD-lastig sind, Büros der SPD eingerichtet werden. Dass wir dort vor Ort sind und wahrgenommen werden. Es ist wichtig, dass sowohl Landtagsabgeordnete, Mitglieder des Stadtrates und nun eben auch des Bundestags vor Ort vertreten sind. In Meiningen und Suhl haben wir jetzt schon zwei Landtagsabgeordnete, die vor Ort sind und man merkt, wie wichtig das ist.
Sie sind Olympia-Sieger und Weltmeister. Jetzt sind Sie direkt in den Bundestag gewählt worden. Fühlt sich ein gesellschaftlicher Sieg anders an als ein sportlicher?
Ja. Das eine ist ein Sieg der Physis – du hast über viele Jahre ganz viele Entbehrungen, schrubbst zigtausende Kilometer und arbeitest sehr lange, um dieses Niveau zu erreichen. Man lernt auch, Täler zu durchlaufen. Du kannst nicht immer nur gewinnen und musst lernen wieder aufzustehen – das gilt auch für die Politik. Im Sport ist ein Sieg am Ende mehr persönlich. Ich war selbst als Aktiver unterwegs, später dann als Trainer. Biathlon ist wie eine Familie und man übernimmt füreinander Verantwortung. Und jetzt übernehme ich noch mehr Verantwortung: die für meinen Wahlkreis.
Und wie fühlt sich diese Verantwortung an?
Noch einmal größer. Nicht falsch verstehen, ein Olympiasieg ist ein Olympiasieg. Das ist schon was ganz Faszinierendes. Aber dieses Amt jetzt ist was anderes, was Großes, das mit einer ganz großen Verantwortung und Verpflichtung einhergeht. Aber wo man auch die Chance hat, etwas zu gestalten, Menschen mitzunehmen, ihnen zur Seite zu stehen. Sie, wie im Sport auch, zu begeistern.
Was ist denn taffer: Ein Wettkampf oder ein Wahlkampf?
Beides sind Herausforderungen und ich habe sie einfach angenommen. Ich habe mir gesagt: "Wenn ich A sage, muss ich auch B sagen." Also bin ich jeden morgen in der Frühe los und abends erst spät heimgekommen. Ich habe alles andere stehen und liegen gelassen, weil ich alle Kraft in diesen Wahlkampf legen wollte. Ich habe dann alle auf die Zeit nach dem 26. September vertröstet.
Ist es nach dem Wahltag tatsächlich entspannter geworden?
Nein, aber ich wollte erst einmal den ersten Schritt gehen. So habe ich es auch im Sport gemacht: Step by Step.
Ein Thema, das uns momentan wieder komplett in Atem hält, ist Corona. Die Inzidenz in ihrer Heimatstadt Suhl liegt mittlerweile bei über 800. Woran liegt das?
Ich denke, das hat viele Ursachen. Man darf die Leute nicht verdammen. Jeder schlägt momentan drauf: "Es sind die Ungeimpften" oder "Es sind die, die unvernünftig sind". Es sind sicherlich viele, die jetzt leichtfertiger mit vielen Dingen umgehen. Vielleicht ist das auch dadurch entstanden, dass jeder gedacht hat, wenn er sich zweimal impfen lässt, ist die Welt wieder heil.
Das war natürlich die Hoffnung.
Aber es ist nicht so. Wir müssen wieder mehr Verantwortung insgesamt übernehmen. Es ist wie im Sport: Du brauchst Disziplin. Ich nehme unterstützend Einfluss. Ich werbe einerseits für das Impfen, andererseits bringe ich ein gewisses Verständnis auf für Menschen, die noch unentschlossen sind.
Das heißt, sie suchen immer den Dialog.
Immer. Sagen wir es so: Für mich war das Ende der DDR dahingehend eine Umstellung. Im DDR-Sport stand Disziplin mit aller Konsequenz und Härte im Vordergrund. Mit der neuen Gesellschaft gab es viel mehr Freiheiten. Und man musste viel mehr überzeugen. Wenn zum Beispiel meine Sportler gefragt haben, ob sie abends länger aufbleiben dürfen, habe ich gesagt, das sei gar kein Problem. Und angefügt: "Aber denk bitte dran, morgen steht die Leistung im Vordergrund und sie wird dann entscheidend sein." Und viele Sportler, die dann trotzdem die Nächte durchgemacht haben, haben es nicht wieder in die Staffel geschafft. Das sind aber Erfahrungen, die Sportler selbst machen müssen.
Und Menschen, die bisher ungeimpft sind, wollen Sie auch überzeugen?
Die Inzidenzen und Hospitalisierungsraten sind jetzt hoch und das ist schlimm. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass man hier mit der Brechstange besonders viel erreicht. Wir müssen Step by Step vorangehen. Wir müssen auch hinterfragen, warum und wieso die Menschen nicht geimpft sind und weiterhin Überzeugung- und Aufklärungsarbeit leisten.
Fürchten Sie, dass die Maßnahmen, die nun nach und nach eingeführt werden, die Gesellschaft spalten?
Die Spaltung ist ja schon da. Und ich glaube, wir müssen uns darum kümmern, sowohl die Geimpften als auch die Ungeimpften zu schützen. Und zwar nicht mit Lockdowns, sondern mit Überzeugung. Ich habe schon einige Leute überzeugt, sich impfen zu lassen. Ich werbe aber auch dafür, wieder mehr zu testen. So handhaben wir es auch in unserer Fraktion: Bei Sitzungen gilt für uns 2G-Plus. Wir haben uns auch entschieden Masken zu tragen, denn das gehört dazu.
Gerade, wenn da 700 Menschen zusammensitzen.
Mich erschrecken zum Beispiel die Bilder vom Kölner Karneval. Ich war vor zwei Jahren selbst auf dem Karneval und es war toll. Aber das sind Veranstaltungen, wo ich jetzt sage: Bitte, bitte mit Bedacht und Verantwortung den anderen gegenüber. Ich finde, was auch mehr kommen sollte, sind Tests des Immunstatus.
Also ein Bluttest?
Ja, dass man lernt auch damit umzugehen. Damit die Menschen wissen, ob sie geschützt sind – unabhängig natürlich von Maske und Abstand.
Es ist ein bisschen wie ein Déjà vu. Zurück in den vergangenen Winter. Was macht Ihnen denn aktuell Hoffnung?
Ich bin der Überzeugung, wir schaffen das auch. Weil mittlerweile jeder versucht, sich damit auseinanderzusetzen und etwas Positives herauszuziehen. Auch Bewegung an der frischen Luft kann helfen. Und wir haben ja gesehen, dass Sport nicht das Problem, sondern oft die Lösung war. Im vergangenen Winter hatten wir zum Beispiel wunderbar viel Schnee und konnten in die Natur. Und auch solche Erlebnisse müssen eben in diese Phase integriert werden. Die Leute wollen nicht permanent mit Vorschriften leben, sie wollen auch eine gewisse Freiheit darüber haben, wie sie sich mit diesem Thema auseinandersetzen.
Sie wollen sich im Sportausschuss engagieren. Glauben Sie denn, dass Sport die Gesellschaft wieder näher zusammenrücken könnte?
Ich würde es mir wünschen. Sport hat einen sozialen Charakter. In Sportvereinen werden Werte geschaffen: Junge Menschen lernen Respekt, Achtung und Teamgeist. Sie lernen, zu gewinnen und zu verlieren.
Gerade Kinder haben während der Pandemie besonders gelitten, auch was die Bewegung angeht. Die Vereine waren geschlossen, die Schulen waren geschlossen. Wie könnte man denn wieder die Lust am Sport erwecken?
Der Sportunterricht muss eine größere Rolle spielen. Und wir müssen die Vereine noch mehr unterstützen: Die Ehrenamts- und die Übungsleiterpauschale wurde angehoben, aber wir müssen noch mehr tun. Mehr Motivation schaffen für die Trainer und die Vereine. Sport ist nicht nur Leistung, sondern vor allem gut für die eigene Fitness. Und davon profitiert am Ende jeder.
Inwiefern?
Fitte Menschen können in ihren Unternehmen ganz andere Belastungen aushalten, sie sind seltener krank, auch ihrer Psyche geht es besser. Schon die alten Philosophen haben festgestellt, dass Körper und Geist zusammengehören. Wenn ich gesund bin, dann kann ich die Welt verändern.