In China sollen sich bereits mehr als 4000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben, gute 100 sind an den Folgen gestorben. Auch in Deutschland ist das Virus mittlerweile angekommen. Seinen Ursprung hat das Virus im chinesischen Wuhan. Die Millionen-Metropole ist mittlerweile abgeriegelt und steht unter Quarantäne.
Die 29-jährige Guojing ist seit Tagen in der Stadt eingeschlossen. Im Interview kritisiert die Sozialarbeiterin, die sich für Frauenrechte einsetzt, die chinesischen Behörden, erklärt, dass es vor allem Frauen sind, die an der vordersten Virusfront kämpfen und erzählt, wie es ist, zusammen mit Millionen von Menschen in der Stadt Wuhan eingeschlossen zu sein.
Watson: Wann hast du zum ersten Mal von dem Coronavirus gehört?
Guojing: Tatsächlich schon relativ früh. Am 30. Dezember, als die ersten Informationen an die Öffentlichkeit drangen, war ich gerade im Tongji-Krankenhaus, um meine Augen behandeln zu lassen. Damals hieß es, die Krankheit sei unter Kontrolle. Auch seien einige Patienten bereits wieder geheilt worden. Also machte ich mir keine großen Sorgen. Mittlerweile wissen wir, dass es wohl an ihrem starken Immunsystem gelegen haben muss, dass sie die Krankheit besiegt haben, denn ein nachweislich wirksames Medikament gibt es noch nicht. Die Berichte, die uns präsentiert wurden, haben uns alle in die Irre geführt. Um den 20. Januar herum stiegen dann plötzlich die Krankheitsfälle in Wuhan rapide an. Es war offensichtlich, dass die wahren Informationen zurückgehalten worden waren. Ich finde das erbärmlich.
Wie hast du dich gefühlt, als du gehört hast, dass die ganze Stadt abgeriegelt werden soll?
Um ehrlich zu sein, lag darin auch etwas Magisches. Es war einfach so unglaublich. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht daran gedacht hätte, die Stadt zu verlassen. Eigentlich wollte ich zum Frühlingsfest verreisen. Aber dann kam ich zu dem Schluss, dass die Ansteckungsgefahr größer ist, wenn ich mich jetzt in die Menschenmassen stürze. Es ist sicherer, hier zu bleiben, wo die Aufmerksamkeit um die Krankheit am größten ist. Gleichzeitig können wir so das Risiko für die Außenwelt minimieren.
Wie ist die Stimmung in der Stadt? Ist die Versorgung gewährleistet?
Schutzmasken und Desinfektionsmittel sind so gut wie nicht mehr zu bekommen. Nicht nur in Wuhan, sondern auch in vielen anderen Städten. An einigen Orten sind auch die Lebensmittelpreise gestiegen. Die meisten Menschen bleiben zuhause. Viele sind ängstlich oder haben das Gefühl, eingesperrt zu sein. Mittlerweile habe ich aber auch den Eindruck, dass wieder mehr Leute auf die Straße gehen, als noch ein paar Tage zuvor. Sie halten es wohl einfach nicht mehr drinnen aus.
Wie gehst du persönlich mit der Situation um?
Am ersten Tag der Stadtblockade, bin ich noch schnell zum Supermarkt, um mich mit Lebensmitteln einzudecken. Die Isolation empfinde ich jedoch als sehr extrem. Ich versuche, mir Routinen anzugewöhnen, es als Test zu begreifen. Die Zeit vertreibe ich mir, indem ich jeden Tag einen kleinen Spaziergang mache. Ich möchte verstehen, was um mich herum vor sich geht, möchte wissen, was auf mich zukommt. Ich will mit eigenen Augen sehen, ob es noch genug Essen im Supermarkt gibt. Außerdem schreibe ich Tagebuch und tausche mich online mit meinen Freunden und meiner Familie aus. Bislang hat sich noch niemand von ihnen mit der Krankheit angesteckt.
Wie wirksam schätzt du die Maßnahmen der Regierung ein?
Es gibt noch viele Dinge, die getan werden müssen. Die Krankenhäuser sind überlastet. Über die neue Spezial-Klinik, die die Regierung bis Anfang Februar in Wuhan bauen will, weiß ich noch nicht allzu viel. Wird sie genug Leute aufnehmen können? Werden genug medizinische Utensilien verfügbar sein, genug Mitarbeiter? Ich mache mir auch Gedanken, ob die Rechte der Angestellten gewahrt werden, denn sie setzten ihr Leben aufs Spiel.
Du setzt dich in einer NGO für Frauenrechte ein. Hast du das Gefühl, dass Männer und Frauen von dieser Krise unterschiedlich hart betroffen sind?
Viele Ärzte diagnostizieren am Bildschirm. Die Menschen, die an vorderster Front gegen das Virus kämpfen, sind dagegen die Krankenschwestern. Es sind vor allem Frauen. Sie haben direkten Patientenkontakt. Ein Großteil dieser Schlacht lastet auf ihren Schultern.
Bist du wütend darüber?
Seit ich mich als Aktivistin für mehr soziale Gerechtigkeit einsetze, habe ich eine andere Perspektive auf das Leben entwickelt. In dieser Gesellschaft läuft so vieles falsch. Aber als Aktivistin frage ich mich nicht mehr: "Warum tut man mir das an?" Sondern: "Was kann ich dagegen tun?"