Angela Merkel erklärte am Mittwoch, dass die Ausgangsbeschränkung noch bis mindestens zum 3. Mai gilt.Bild: Getty Images Europe / Pool
Interview
Philosoph kritisiert Corona-Maßnahmen: "Schon der vierte Strategiewechsel"
Philosoph und Ethiker Julian Nida-Rümelin kritisiert im Interview, dass es keine öffentliche Debatte über die Strategie im Kampf gegen das Coronavirus gebe. Er fordert ein intelligenteres Vorgehen.
Nach Wochen strikter Beschränkungen im öffentlichen Leben hat die Bundesregierung nachjustiert: Nächste Woche werden erste Lockerungen in Kraft treten, kleinere Geschäfte können wieder öffnen.
Der Ruf nach ersten Schritten in Richtung Normalität war zuletzt lauter geworden. Im Interview mit watson erklärt der ehemalige SPD-Kulturstaatsminister und Philosoph Julian Nida-Rümelin, warum auch der den Kurs der Regierung kritisiert hatte – und was er von den Ankündigungen von Bund und Ländern hält.
"Wir müssen Alternativen diskutieren. Es geht hier auch um moralische Fragen."
watson: Am Mittwoch haben Landes- und Bundesregierung entschieden. Die Maßnahmen sollen etwas gelockert werden, aber Kontaktbeschränkungen gelten weiter bis zum 3. Mai. Sie hatten im Vorfeld eine Lockerung gefordert. Wie bewerten Sie die Entscheidung der Bundes- und Landesregierungen?
Julian Nida-Rümelin: Ich hatte mich für eine Lockerung so bald wie möglich ausgesprochen. Aber so bald wie möglich heißt nicht sofort. Wenn die Politik zur Einschätzung kommt, wir brauchen noch weitere zwei oder vier Wochen zur Vorbereitung, dann bin ich damit einverstanden. Meine Kritik bezog sich vor allem darauf, dass wir Alternativen diskutieren müssen und auch andere Disziplinen miteinbezogen werden müssen. Das heißt, dass auch andere Disziplinen als die Virologie und Epidemiologie, zum Beispiel Fachleute aus den Wirtschaftswissenschaften, der Bildung und der Ethik sowie die Bürgerschaft überlegen, wie man weitermacht. Es geht hier eben auch um moralische Fragen.
Und das war bisher nicht der Fall?
Das ist am Anfang nicht erfolgt. Da hieß es, man solle abwarten und die Virologen würden schon sagen, was zu tun ist.
Hatten die Virologen zu viel Einfluss auf die Entscheidungen?
Es gibt nicht die Virologen. Es gibt durchaus sehr unterschiedliche Meinungen, angefangen bei Hendrik Streeck über Karin Mölling bis hin zu Christian Drosten oder Alexander Kekulé. Da gibt es eine sehr große Bandbreite. Aber alle sagen, sie können die Gesamtstrategie nicht verantworten. Das ist Sache der Politik. Auch die Leopoldina hat klargemacht, dass die Wissenschaft nur berät. Deshalb ist es dringend erforderlich, dass man einen breiten gesellschaftlichen Diskurs eröffnet.
"Das ist jetzt der vierte Strategiewechsel der Bundesregierung. Man muss da doch mal darüber reden, wo man hin will."
Erkennen Sie denn eine einheitliche Linie bei der Politik der Bundesregierung?
Das ist jetzt der vierte Strategiewechsel der Bundesregierung. Zu Beginn ist man auf Sicht gefahren und hat geschaut, wie sich die Sache entwickelt. Das war sehr leichtsinnig. Bei der Verbreitung eines solchen Virus handelt es sich um Zahlen, die exponentiell wachsen. Die haben die Eigenschaft, dass sie am Anfang harmlos aussehen, zu einem Zeitpunkt, als man hätte eingreifen müssen. Nach der Karnevalswoche hat man das in Deutschland, aber auch in Österreich zu lax gehandhabt. Der zweite Wechsel war, langfristig auf Herdenimmunität zu setzen, aber einen langsamen Auswuchs, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Es wurde nicht gesagt, was das für schreckliche Todeszahlen bedeuten könnte.
Und die dritte Phase?
Die dritte Phase war dann, dass man die Verdopplungszeiten des Virus über ein bestimmtes Niveau bringen wollte. Das hatte allerdings einen Denkfehler beinhaltet: Solange es Verdopplungszeiten gibt, ist das Wachstum immer noch exponentiell. Das heißt, die Krankheit ist nicht unter Kontrolle. Jetzt ist es die vierte Strategie. Jetzt will man offenbar das Virus eindämmen und keine Herdenimmunität anstreben. Man muss da doch mal darüber reden, wo man hinwill, was sind denn die Kriterien für einen Erfolg?
Also waren die Entscheidungen der Bundesregierung hier falsch?
Man darf nicht den Fehler machen und nur in Extremen denken: Lockerungen mit dem Risiko von mehr Todesfällen aus Rücksicht auf die Wirtschaft auf der einen Seite oder das Beibehalten eines harten Kurses oder sogar Ausweitung der Maßnahmen auf der anderen. Wenn man nur in diesen beiden Alternativen denkt, gelangt man in eine Sackgasse.
"Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung bereits immun ist gegen das Virus, weil die Betroffenen die Krankheit bereits hatten."
Warum?
Meine These ist, dass wir smart vorgehen müssen. Wir müssen intelligenter mit der Krise umgehen. Wir müssen diejenigen schützen, die in erster Linie gefährdet sind, denn das Virus ist extrem selektiv. Bei den Todesfällen in Italien sind nur ein Prozent unter 50 Jahren und so gut wie niemand ohne Vorerkrankungen.
Es gibt aber auch Meldungen von jungen Menschen ohne Vorerkrankungen, die am Coronavirus sterben…
Einzelfälle gibt es immer und es ist auch nicht immer klar, ob diejenigen unter 30 Jahren, die verstorben sind, wirklich keine Vorerkrankungen hatten. Aber in der aktuellen Vorgehensweise erkenne ich keine intelligente Struktur. Die räumliche Distanzwahrung ist im Prinzip eine Methode aus dem Mittelalter zur Bekämpfung der Pest. Wir müssen davon wegkommen. Südkorea hat vorgemacht, wie effektiv es sein kann, wenn man einen anderen Weg geht. Wir müssen die Todeszahlen drücken, indem wir die Risikogruppe schützen, viel testen und durch Apps nachverfolgen. Und gleichzeitig die Maßnahmen lockern, damit das wirtschaftliche, kulturelle und soziale Leben möglichst rasch wieder nach oben fährt.
Wie kann man sichergehen, dass durch ein Hochfahren der Wirtschaft nicht wieder eine Weiterverbreitung des Virus beschleunigt wird?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung bereits immun ist gegen das Virus, weil die Betroffenen die Krankheit bereits hatten. In Dänemark wurden Anfang April 2,7 Prozent der Blutspender auf Covid-19 getestet. Wenn die Zahl stimmt, dann hätten wir in Deutschland bereits mehr als zwei Millionen, die bereits immun sind gegen das Virus. Diese Menschen könnten eingesetzt werden, um das wirtschaftliche und kulturelle Leben wieder hochzufahren. Aber um zu wissen, wer das ist, brauchen wir mehr Daten. Wir brauchen digitale Tools, um zu wissen, wer infiziert ist, aber auch um zu erfassen, wer gesund und wer immun ist. Ich leite eine kleine Stiftung, die Parmenides-Stiftung, die konkrete Vorschläge zum Einsatz solcher Tools zur Bekämpfung der Pandemie entwickelt (CoviScope).
"Ich finde es grundsätzlich gar nicht so schlecht, dass es verschiedene Ansätze von verschiedenen Landesregierungen gibt."
Am Ende entscheiden die Länder über die Maßnahmen. Ist das nicht auch hinderlich für die Durchsetzung?
Ich finde es grundsätzlich gar nicht so schlecht, dass es verschiedene Ansätze von verschiedenen Landesregierungen gibt. Es sind unterschiedliche Situationen in den Ländern und außerdem ist es gut zu sehen, was funktioniert und was nicht. Wenn alle auf einer Linie sind, dann kann man nicht vergleichen. Aktuell ist es so, dass Nordrhein-Westfalen und die Regierung von Armin Laschet gerne schneller zur Normalität zurückkehren möchte und Bayern und die Regierung von Markus Söder bremst. Das möchte ich gar nicht kritisieren. Aber es fehlt eine Systematik bei den Maßnahmen. Man muss klarmachen, unter welchen Voraussetzungen welche Lockerungen möglich sind. Und das alles nur, wenn wir es schaffen, die Alten und Kranken zu schützen.
Über den Interviewpartner:
Julian Nida-Rümelin ist Philosoph und Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Spezialgebiete sind unter anderem Entscheidungs- und Rationalitätstheorie, theoretische und angewandte Ethik. Er war unter Gerhard Schröder Kultur-Staatsminister.
Auch wenn er inhaltlich eher bei Armin Laschet gesehen wird: Vergangenes Jahr wurde Julian Nida-Rümelin von Markus Söder mit dem Bayerischen Verdienstkreuz ausgezeichnet.Bild: www.imago-images.de / Spöttel Picture
"Wie kann es sein, dass es uns trotz all der Maßnahmen nicht gelingt, Altenheime und Krankenhäuser zu sichern? Wir haben offenbar massive Fehler in der Vorbereitung gemacht."
Dieser Schutz der Risikogruppe, alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen. Wie stellen Sie sich das genau vor?
Ich nenne das "cocooning", aus dem Englischen. Ich finde diesen Ausdruck sehr sympathisch. In den USA sagt man das, wenn man zu Hause bleibt und sich selbst verwöhnt. Das hat etwas Kuscheliges. Es geht aber auch darum, sich einen Kokon zu bauen, um sich zu schützen. Und das ist, was aktuell nicht passiert. Wir müssen älteren Menschen die Möglichkeiten schaffen, sich wirklich schützen zu können. Viele alleinlebende ältere Menschen sind beispielsweise nach wie vor gezwungen, selbst einkaufen zu gehen. Wie kann das in einem so weit entwickelten Sozialstaat wie Deutschland sein?
Aber auch trotz der aktuellen, strikten Maßnahmen kommt es immer noch zu größeren Infektionen in Altenheimen und auf Krebsstationen. Ist es nicht unverantwortlich, die Maßnahmen jetzt zu lockern?
Ich würde die Frage umdrehen: Wie kann es sein, dass es uns trotz all der Maßnahmen nicht gelingt, Altenheime und Krankenhäuser zu sichern? Wir haben offenbar massive Fehler in der Vorbereitung gemacht. Es wurden bereits 2012 durch das Robert-Koch-Institut Vorschläge erarbeitet, wie man sich auf die aktuelle Situation vorbereiten kann. Wie kann es sein, dass Ärzte keine Schutzkleidung haben? Das spricht nicht gegen eine Lockerung der Maßnahmen, sondern dafür, die Voraussetzungen dafür zu realisieren, damit auf breiter Front gelockert werden kann. Dieser mangelnde Schutz der Risikogruppen treibt auch aktuell die Todeszahlen nach oben. Das geht in der Berichterstattung gerade etwas unter, aber zu Beginn der Infektionswelle hatten wir die weltweit niedrigste Letalität von 0,3 bis 0,4 Prozent. Inzwischen ist diese aber bei ungefähr 2,5 Prozent. Das heißt, es hat eine Vervielfachung der Letalitätsrate stattgefunden.
Wie erklären Sie sich das?
Das hängt damit zusammen, dass inzwischen auch ältere Menschen betroffen sind. Zunächst waren es vor allem Rückkehrer aus dem Ski-Urlaub, hauptsächlich aus Ischgl. Das waren meist junge, gesunde Menschen, die vor allem junge oder mittelalte Menschen angesteckt haben. Von denen ist kaum jemand gestorben. Nun erreicht das Virus aber auch bei uns die Gesamtbevölkerung und eben auch alte Menschen. Damit geht die Letalität nach oben.
"Wir müssen unbedingt darüber reden, wie es weitergehen soll und zwar mit einer breiten Öffentlichkeit."
In Schweden und zunächst auch in Großbritannien hatte man zu Beginn eine ungebremste Verbreitung vorgeschlagen, um auf Herdenimmunität zu setzen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Zu Beginn war das auch die Herangehensweise der Bundesregierung. Das Robert-Koch-Institut ist dann zu dem Schluss gekommen, dass 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sein müssen, bis die Pandemie zu einem Halt kommt. Wenn man das hochrechnet, war von Anfang an klar, dass es eine zeitliche Streckung von mindestens drei Jahren benötigt, damit das Gesundheitssystem nicht überfordert wird. Bei der Annahme einer Letalität von ungefähr einem Prozent, was aktuell überholt ist, hätte das Hunderttausende Todesopfer bedeutet [Anm. d. Red.: Bei der aktuell angenommen Letalitätsrate von 2,5 Prozent wären es bei einer Infektion von 60 Prozent der Bevölkerung sogar über 1,2 Millionen Todesopfer]. Das ist nicht verantwortbar. Wir haben damals auch keine öffentliche Diskussion darüber geführt. Wir müssen unbedingt darüber reden, wie es weitergehen soll, und zwar mit einer breiten Öffentlichkeit.
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