Tausende Menschen haben am Mittwoch in Berlin gegen das neue Infektionsschutzgesetz demonstriert. Nachdem die Anhänger der "Querdenker"-Bewegung – wie so oft in den vergangenen Monaten – alle wesentlichen Hygieneauflagen missachtet haben, hat die Polizei die Versammlung aufgelöst und dabei auch Wasserwerfer eingesetzt.
Zeitgleich haben im Bundestag vor der Abstimmung über das Gesetz Anhänger von Verschwörungsideologien Abgeordnete bedrängt.
Immer wieder kam es in den vergangenen Tagen und Wochen zu Demonstrationen. Auch am Samstag gingen Menschen beispielsweise in Leipzig auf die Straße.
Was sagen solche Ereignisse über die Entwicklung der "Querdenker" aus? Wie gefährlich ist die Bewegung? Und wie sollten Bürger am besten auf ihre Thesen reagieren?
Watson hat darüber mit Michael Blume gesprochen, Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg. Blume forscht seit Jahren zu Verschwörungsideologien, leistet Aufklärungsarbeit und berät Politiker im Umgang damit.
Obwohl gerade Tausende Menschen in Berlin protestiert haben, sagt Blume, dass die "Querdenken"-Bewegung sich gerade selbst zerlegt. Das liegt ihm zufolge auch an einem Treffen des "Querdenken"-Initiators mit einem bekannten Reichsbürger, das die Bewegung spaltet.
watson: Herr Blume, am Rande der Demos gegen das neue Infektionsschutzgesetz am Mittwoch in Berlin ist es wohl mehreren rechten Aktivistinnen und Aktivisten gelungen, in den Bundestag einzudringen – und dort unter anderem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zu bedrängen. Wie bedrohlich ist das aus Ihrer Sicht?
Michael Blume: Bei Verschwörungsideologien wie QAnon und den sogenannten "Querdenkern" sind wir inzwischen in einem Stadium des Verfalls und der inneren Spaltungen angekommen. Das bedeutet aber leider auch, dass die Leute, die noch dabei bleiben, sich zunehmend radikalisieren. Diese Verschwörungsbewegungen sind erst einmal besiegt. Aber ein Teil davon wird in der nahen Zukunft weiter eskalieren. Ich halte das für eine Gefahr für die Sicherheit.
Über diese Entwicklung – dass die Bewegung kleiner wird, sich aber radikalisiert – hatten Sie schon im Juni in einem Gespräch mit watson gesprochen. Setzt sich dieser Trend jetzt fort?
Ja. Ich hatte im Juni tatsächlich schon prognostiziert, dass Donald Trump die Wahl verlieren und dadurch die QAnon-Verschwörungsideologie zerfallen würde. Doch Verschwörungsgläubige bauen sich eine alternative Welterzählung auf, nach der sie angeblich kurz davorstehen, die "große Weltverschwörung" zu besiegen. Wer an so etwas glaubt, kann nicht in einen gemäßigten Modus zurückkehren. Entweder gelingt es solchen Bewegungen, an Machtpositionen zu kommen – oder sie zerfallen. Der angebliche anonyme Informant hinter QAnon twittert schon seit Wochen nicht mehr. Die sogenannten "Querdenker" haben sich weiter zerlegt: Michael Ballweg, der Initiator der Bewegung, hat sich gerade mit Peter Fitzek getroffen, dem selbsternannten "König von Deutschland", einem der bekanntesten und bereits gerichtlich verurteilten Köpfe der Reichsbürgerbewegung in Deutschland. Tiefer kann man kaum sinken.
Sie haben gesagt, dass die Bewegung zur Gefahr für die Sicherheit wird. Was müssen die zuständigen staatlichen Stellen jetzt gegen diese Gefahr tun?
Wir müssen uns alle klarmachen, dass Menschen, die viel in ihren Verschwörungsglauben investiert haben – Zeit, gespendetes Geld, das Aufgeben von Beziehungen – jetzt immer wieder vor der Wahl stehen: Steige ich aus und gebe zu, dass das alles falsch war – oder setze ich noch einen drauf? Aus den USA erreichen uns erste Berichte, dass es zu Suiziden von QAnon-Anhängern gekommen sein soll, aber auch zu Gewalt gegen andere. Ich empfehle allen Sicherheitsbehörden, wachsam und entschlossen vorzugehen. Bei der Demo am 7. November in Leipzig hat das nicht geklappt, am Mittwoch in Berlin schon. Man muss klare Regeln setzen und den Leuten deutlich machen: Wer sich an Recht und Gesetz hält, der bekommt, wenn nötig, auch Hilfe, um auszusteigen. Wer aber meint, er müsse weiter eskalieren, dem tritt der Rechtsstaat wehrhaft gegenüber.
Sehen Sie eine gute Entwicklung darin, dass die Ermittlungsbehörden jetzt die Wohnung des Verschwörungsideologen Attila Hildmann durchsucht haben – und dass die Staatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen zu Hildmann an sich gezogen hat?
Das begrüße ich sehr. Ich finde es interessant, dass wir endlich deutschlandweit vergleichen, welche Staatsanwaltschaften und Gerichte wirklich durchgreifen – und welche nur funktionieren, wenn es um linke Straftaten geht. Es ist wichtig, dass der Rechtsstaat gegen alle Demokratiefeinde wehrhaft ist, um das Vertrauen in ihn wieder herzustellen.
Die Menschen aus dem Dunstkreis der Querdenker-Bewegung, die am Mittwoch Bundestagsabgeordnete bedrängt haben sollen, waren laut dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" auf Einladung von AfD-Abgeordneten dort. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die AfD eine Art parlamentarischer Arm dieser Verschwörungsideologen ist. Wie eng ist diese Verbindung aus Ihrer Sicht?
Es ist gut, dass sich der Ältestenrat des Bundestages selbst damit befasst. Hier in Stuttgart sind bei der Oberbürgermeister-Wahl der "Querdenken"-Gründer Ballweg und ein AfD-Kandidat gegeneinander angetreten, beide haben weniger als drei Prozent der Stimmen errungen. Ich glaube, dass es generell bei Verschwörungsbewegungen diesen Widerspruch gibt: Einerseits will man eine möglichst breite Allianz, andererseits konkurriert man miteinander. Ich rate grundsätzlich jeder politischen Partei und allen Gewählten ab, sich auf Verschwörungsbewegungen einzulassen. Das stachelt diese nur noch weiter an.
Was ist aus Ihrer Sicht die beste Reaktion der anderen Parteien im Bundestag darauf, dass die AfD Verschwörungsanhänger ins Parlament einschleust?
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat aus meiner Sicht sehr gut reagiert. Er hat die Regeln verdeutlicht, die im Parlament gelten. Damit ist jetzt auch für die Öffentlichkeit deutlich geworden, wer sich an die Regeln hält – und wer sie sprengen möchte. Ich habe auch den Eindruck, dass die Medien besser darin geworden sind, sich nicht mehr von Verschwörungsgläubigen triggern zu lassen – sondern sachlich und unaufgeregt zu berichten.
Wie meinen Sie das?
Dass ein elfjähriges Kind instrumentalisiert wurde, seine Geburtstagsfeier auf einer "Querdenken"-Demo in Karlsruhe mit der Verfolgung von Anne Frank gleichzusetzen, dass in Chatgruppen Screenshots herumgereicht wurden mit "Impfung macht frei", der abgewandelten Inschrift über den Toren der Vernichtungslager Dachau und Auschwitz: Darüber wurde berichtet, aber nüchtern und ohne diesen Leuten noch Fame zu schenken.
Apropos digitale Medien: Am Rande der Demo am Mittwoch hat auf Twitter der Screenshot aus einer Telegram-Gruppe die Runde gemacht, in dem ein Teilnehmer die anderen vor eigens gezüchteten "Impfmücken" warnte, die angeblich eingesetzt würden, um Menschen ungewollt zu impfen. Jetzt hat sich herausgestellt, dass diese Nachricht wohl jemand verbreitet hat, der die Verschwörungsgläubigen trollen wollte. Was halten Sie von solchen Aktionen?
Ich halte nichts davon, Verschwörungsgläubige zu trollen. Damit liefert man diesen Leuten nur einen Anlass, zu sagen, dass alles, was bei ihnen schiefläuft, auf angebliche "Agenten" des "tiefen Staates" zurückgeht. Diesen Lernprozess haben wir in den Wissenschaften schon hinter uns: Wer sich selbst Verschwörungserzählungen ausdenkt, um zu zeigen, wie absurd sie sind, der wird immer erleben, dass einige Menschen das tatsächlich glauben. Wer selbst ein vernünftiger Demokrat ist, klärt auf, aber trollt nicht. Davon kann ich nur abraten.
Wie sollten Bürgerinnen und Bürger aus Ihrer Sicht denn mit Verschwörungsgläubigen in ihrem persönlichen Umfeld umgehen?
Aufklären, sich mit anderen austauschen und sich in seriösen Medien über Politik und den Umgang mit Verschwörungsmythen informieren – ohne sich davon zu stark aufregen zu lassen. Wenn wir uns anstecken lassen von dem Gerede, dass bald eine "Endschlacht" bevorstehe und die demokratische Ordnung kippe, dann spielen wir diesen Untergangspropheten nur in die Hände. Verschwörungsgläubige sind in Deutschland keine Mehrheit, sondern nur eine laut brüllende Minderheit.
Sie empfehlen also, Optimismus zu verbreiten, statt andere zu trollen.
Der Unterschied zwischen einem vernünftigen Mythos und einem Verschwörungsmythos ist: An einem vernünftigen Mythos kann ich zweifeln, ich kann ihn hinterfragen, er stiftet mir Hoffnung. Ein Verschwörungsmythos stiftet Panik, er macht die Zeit zu: Er gibt mir das Gefühl, ich müsse mein Geld, mein Leben, die Menschen, die mir etwas bedeuten, in Sicherheit bringen – und ich dürfe gar nicht mehr zweifeln. Deswegen ist es so wichtig, dass sich auch jemand, der sich zum Beispiel gegen Antisemitismus engagiert, nicht von der Panik anstecken lässt. Die setzen auf Feindschaft, wir setzen auf Wissenschaft. Und auf das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaates.
Mehreren Journalistinnen und Journalisten ist am Mittwoch bei der Demo in Berlin aufgefallen, dass es weniger offen rechtsradikale Symbole wie Reichsflaggen gab – aber ziemlich viel Material von christlichen Fundamentalisten, in denen von angeblichen satanischen Verschwörern oder einem bevorstehenden Untergang die Rede ist. Übernehmen diese christlichen Fundamentalisten gerade eine Führungsrolle in der "Querdenker"-Bewegung?
Überall auf der Welt sind religiöse Fundamentalisten besser organisiert als Säkulare. Das liegt daran, dass sie durch extremere Überzeugungen in engen Gemeinschaften und im Durchschnitt größeren Familien zusammenwachsen. Deshalb rücken die jetzt auch in dieser Bewegung in den Vordergrund. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass zunehmend Kinder instrumentalisiert werden. Am Anfang der Pandemie, im Frühjahr, haben Leute wie Xavier Naidoo den Adrenochrom-Verschwörungsmythos stark verbreitet – demzufolge Kinder in Gefängnissen gehalten würden, um aus ihrem Blut das Serum Adrenochrom zu gewinnen, von dem sich die Eliten ernährten. Inzwischen nehmen manche Verschwörungsgläubige ihre Kinder direkt mit auf die Demos und postieren sie gegenüber der Polizei. Dieses Vorrücken christlicher Fundamentalisten und die Instrumentalisierung von Kindern machen mir Sorgen.
Wie kann sich die "Querdenker"-Bewegung in den kommenden Monaten weiterentwickeln?
Je mehr Menschen klar wird, dass Donald Trump die US-Wahlen verloren hat – und dass er deshalb nicht der erhoffte Erlöser ist – desto stärker werden sie nach einer neuen Erlöserfigur suchen. Entsprechend traf der "Querdenken"-Initiator Ballweg ja auch den verurteilten Reichsbürger und Pseudo-König Fitzek. Ich denke also, dass die Bewegung weiter zersplittern wird. Wir werden da psychische Ausnahmezustände erleben. In Baden-Württemberg bauen wir deshalb gerade unsere Beratungsangebote aus: für Menschen, deren Angehörige in diese Ideologie abgerutscht sind – und für die, die selbst nach Ausstiegsmöglichkeiten suchen. In Freiburg haben wir die Beratungsstelle "Zebra" vor allem für Angehörige, bundesweit "Ofek" für Betroffene von Antisemitismus und beim Innenministerium Baden-Württemberg "Konnex" für Deradikalisierung. Auch Kirchen, Humanisten und kommunale Stellen stärken ihre Angebote.
Donald Trumps Niederlage ist also ein starker Rückschlag für diese Bewegung.
Ja, absolut. Es ist kein Zufall, dass QAnon-Flaggen auf den Corona-Demos auftauchen. Wer an die Weltverschwörung glaubt, der sucht nach dem einen Erlöser, der sie zerschlagen kann. Das nennt man Tyrannophilie, die Sehnsucht nach einem Tyrannen. Wenn immer mehr Verschwörungsgläubige akzeptieren, dass der scheidende US-Präsident nicht dieser Erlöser war, dann können sie entweder erkennen, dass sie etwas völlig Falsches geglaubt haben – oder einen anderen vermeintlichen Erlöser suchen. Und wir müssen leider damit rechnen, dass sich der oder die Nächste smarter geben wird als Trump.