watson: Es ist der 9. Juni 2024, kurz nach 18 Uhr. Bei den ersten Hochrechnungen der EU-Wahl liegt die AfD vor der SPD und den Grünen bei 16 Prozent. Was geht einem Populismusforscher durch den Kopf?
Marcel Lewandowsky: Überrascht war ich nicht. Mit so einem Wert hatte ich gerechnet. Die AfD verfügt über eine loyale Wählerschaft. Deshalb habe ich nicht geglaubt, dass sie bei Europawahlen kollabieren würde.
Wie erklären Sie sich, dass die AfD trotz all der Skandale in den letzten Monaten bei der Europawahl so viele Stimmen holte?
Die Skandale der AfD fallen bei ihrer Wählerschaft nicht ins Gewicht. Sie werden nicht gesehen oder einfach als Versuch der anderen Parteien und der Medien gedeutet, der AfD zu schaden.
Welche Schuld tragen die demokratischen Parteien am Ergebnis der AfD?
Ich will da gar nicht von Schuld sprechen. Die AfD bedient eine Nachfrage. Wenn es einfach darum ginge, die Opposition zu wählen, gäbe es auch andere Parteien. Aber nein, die Leute wählen die Rechtspopulisten aus inhaltlichen Gründen.
Wer wählt die AfD und warum?
Häufig wählen die AfD nicht die sozial Abgehängten, sondern diejenigen, die befürchten, es zu werden. Die beste Erklärung für die Wahl der AfD sind jedoch die Einstellungen zu Demokratie und Migration. Das Parteiprogramm bietet harsche Migrationspolitik an. Zudem lebt es vom Versprechen, dass die Demokratie wieder eingeführt wird, die zuvor verloren gegangen sei.
Nach der Europawahl haben Sie auf X geschrieben, für die demokratischen Parteien lohne es sich nicht, "nach Strategien zu suchen, die kurzfristig Wähler [von der AfD] in großer Zahl zurückgewinnen." Wieso?
Die Idee, dass man AfD-Wähler über restriktive Migrationspolitik zurückgewinnen will, ist zwar nachvollziehbar. Es gibt aber genug Studien, die zeigen: Wenn man versucht, Rechtspopulisten entgegenzukommen, werden die dadurch noch gestärkt. Denn es bestätigt ihre Politik. Am Ende wählen die Menschen das Original und nicht die Kopie. Das ist ausgelutscht, aber wahr.
Dennoch sind die Unionsparteien nach rechts gerückt und lagen bei der EU-Wahl mit 30 Prozent auf Platz eins. Dann hat doch die Union am Ende gewonnen und nicht die AfD, oder?
Es geht nicht um die Frage, ob Konservative Stimmen gewinnen oder nicht. Es geht um die Frage, ob sie im Verhältnis stark genug sind, um Koalitionen ohne Rechtspopulisten zu bilden. Die CDU kann zwar Wähler bei der SPD abschöpfen, aber es gelingt ihr bislang nicht, Menschen von der AfD ins demokratische Spektrum zurückzuholen. Abgesehen davon hat die Union ihr Ergebnis im Vergleich zur letzten EU-Wahl nur gehalten.
Sie plädieren für einen Perspektivwechsel: Zur Bekämpfung der AfD müssen die demokratischen Parteien "sich für neue Koalitionen öffnen". Für die Landtagswahlen in Thüringen etwa für eine Koalition zwischen CDU, Linke und BSW. Was versprechen Sie sich davon?
Die demokratischen Parteien müssen für sich klären, wie weit sie zu gehen bereit sind, um die AfD aus Regierungen herauszuhalten. Wenn man davon ausgeht, dass sie nicht mit der AfD koalieren wollen, braucht es kreative Ideen. Ich empfehle keine Koalitionen. Ich sehe nur, dass man sich lange Zeit Optionen verbaut hat.
Welche Rolle spielt die CDU dabei?
Die CDU wird bei den Ostwahlen stark werden. Sie muss sich fragen, welche Koalition sie eingehen will, ohne die AfD. Bis zuletzt wurde da wenig vorbereitet, sondern eher die Äquidistanz zu links und rechts gleichermaßen betont. Inzwischen öffnet man sich für das BSW. Das ist eine populistische Partei, aber womöglich die einzige Option für die Regierungsbildung ohne die AfD.
Die AfD spielt das populistische Opfer-Narrativ – "alle sind gegen uns" – routiniert: Wenn CDU, Linke und BSW koalieren, könnte die AfD daraus kommunikatives Kapital schöpfen.
Das ist ein Risiko, das will ich nicht herunterspielen. Auf der anderen Seite bedient die AfD das Opfer-Narrativ ohnehin immer. Die Wählerschaft der Union wiederum könnten durch ein Bündnis mit linken Parteien abgeschreckt werden. Ist die Union bereit, mit Rechtspopulisten zusammenzugehen? Oder eben nicht und nimmt in Kauf, kurzfristig Stimmen zu verlieren? Es ist ein Dilemma ohne einfachen Ausweg. Das ist aber ein recht hausgemachtes Problem. Es rührt daher, dass die Union sich lange nicht auf alternative Koalitionen vorbereitet hat.
Was spricht dafür, dass die CDU sich für Koalitionen nach links öffnet?
Zum einen könnten die CDU und die anderen Parteien ja auch versuchen, das Risiko einzugehen und dann darauf setzen, dass ihre Regierungspolitik überzeugt und eine konservativ-linke Koalition dadurch normalisiert wird. Zum anderen würden sie dadurch die AfD in der Regierung verhindern. Wenn die einmal den Fuß in der Tür haben, können sie in der Regierung die Kulturpolitik, die Medienpolitik, und Bildungspolitik mitbestimmen. Je nachdem, wie stark sie werden, können sie Medienstaatsverträge aufkündigen und über die Besetzung der Landesverfassungsgerichte mitentscheiden.
Sind die Menschen nicht davon genervt, immer gegen etwas zu sein und brauchen stattdessen ein "Dafür"?
Ja und nein. Ein Beispiel, wie man das gut machen kann, ist Polen. Die Koalition um Donald Tusk hat sich ganz offen gegen die vormals regierende PiS-Partei gestellt. Oder nehmen Sie die zweite Runde der Parlamentswahlen in Frankreich. Das Ziel: Die Demokratie muss gerettet werden. Das hat die Wähler mobilisiert. Es geht um den Kern der Demokratie und darum zu zeigen, dass die eine Partei was ganz anderes will – und dass ihre Wahl Konsequenzen für unsere Gesellschaft hat, die die Mehrheit nicht will. Außerdem muss man in der Lage sein, das mit einer positiven Kampagne zu verbinden.
Doch was hilft langfristig gegen die AfD?
Rechtspopulisten gewinnen nicht dadurch, dass sie Menschen ihre Positionen einpflanzen, sondern durch das Abrufen bestehender Positionen. Jemand kann schon lange konservative Asylpositionen haben, aber dennoch nicht die AfD gewählt haben. Irgendetwas aber hat irgendwann dazu geführt, dass er es dann doch tut. Wie kriegt man diesen Wähler zur CDU oder SPD zurück, trotz seiner Positionen? Es geht darum, was die Einstellungen aktiviert, die zur Wahl der AfD führen: Etwa Statusverlust, Krisenwahrnehmung oder Ängste, übervorteilt zu werden. All das lässt sich vor allem durch eine gerechtere Wirtschafts- und Sozialpolitik abfedern – aber das ist eine langfristige Perspektive.
Was halten Sie von einem Verbotsverfahren?
Verfassungspolitisch ist das sicherlich ein begründbarer Schritt. Strategisch gibt es aber viel zu bedenken. Wenn, dann sollte ein solcher Vorstoß aus dem Bundesrat kommen, weil er das einzige Organ ist, das nicht eindeutig Regierung oder Opposition angehört. Und man sollte sich ziemlich sicher sein, dass sie auch verboten wird. Ansonsten wäre das ein demokratischer Ritterschlag für die AfD und die anderen Parteien hätten sich blamiert.
Gibt es Hoffnung, dass die AfD künftig zu einer politischen Randerscheinung wird?
Wir müssen sehen, dass nicht nur das Wählerpotenzial der AfD mobilisiert wird, sondern auch das der anderen Parteien. Nur zwei Drittel gingen in Deutschland bei der Europawahl wählen. Daher gibt es noch Luft nach oben und Potenzial für die Demokraten, das abgerufen werden kann. Sie müssen nur wissen, wie.