Am Freitag hat sich Angela Merkel mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei getroffen. Dabei ging es auch um das Flüchtlings-Abkommen zwischen der EU und der Türkei.
Merkel hat Erdogan weitere Hilfen der EU bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise in Aussicht gestellt. "Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die EU über die zwei mal drei Milliarden Euro hinaus Unterstützung leistet", sagte sie nach dem Gespräch. Darüber werde in den EU-Gremien gesprochen.
Dass Merkel mehr Geld in Aussicht stellt, kommt nicht von ungefähr. Denn das bestehende Abkommen wackelt immer wieder, aus mehreren Gründen:
In der Türkei werden die Flüchtlinge angesichts einer schlechten Wirtschaftslage zum Politikum. Erdogan hält die finanziellen Hilfen aus Europa für unzureichend.
Erdogan hat auch schon mehrfach gedroht, die Flüchtlinge in Richtung Europa zu schicken, sollte nicht mehr Geld aus der EU kommen.
Zuletzt warf Außenminister Mevlüt Cavusoglu der EU vor, die zugesagten Gelder bisher nicht vollständig gezahlt zu haben.
Die Lage in den griechischen Auffanglagern auf den Inseln Chios, Samos, Leros und Kos spitzt sich indes zu. Die Flüchtlingszahlen dort steigen. Besonders im Winter leiden die 40.000 Flüchtlinge dort an katastrophalen Verhältnissen.
Der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei
Im März 2016, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, hatten die Türkei und die EU den sogenannten Flüchtlingspakt vereinbart. Die EU hatte Ankara darin sechs Milliarden Euro für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei zugesagt. Die Türkei wiederum verpflichtete sich unter anderem dazu, keine weiteren Flüchtlinge mehr über die Grenze nach Europa zu lassen, sowie Flüchtlinge zurückzunehmen, die von der Türkei aus über das Mittelmeer auf die griechischen Inseln gelangt waren. Für jeden zurückgeschickten Flüchtling nimmt die EU einen anderen Flüchtling aus der Türkei auf.
Wackelt der Flüchtlingsdeal also tatsächlich? Watson hat mit dem Ideengeber für den EU-Türkei-Pakt gesprochen: Gerald Knaus. Er ist Migrationsexperte und arbeitete 2015 ein Thesenpapier aus, das die Grundlage für das Abkommen bildete.
"Wenn nicht bald etwas passiert, wird dieses Abkommen nicht an der Türkei, sondern am Unvermögen der EU scheitern."
watson: Sie gelten als geistiger Vater des Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei, der im März 2016 vereinbart wurde. Wie zufrieden sind Sie heute mit dem Ergebnis?
Gerald Knaus: Wir müssen hier deutlich unterscheiden zwischen dem, was in der Türkei passiert ist und der Situation der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln. Den syrischen Flüchtlingen in der Türkei geht es seit 2016 dramatisch besser. Heute bekommen 1,7 Millionen Syrer in der Türkei Sozialhilfe, die die EU finanziert. 650.000 syrische Kinder gehen in der Türkei zur Schule. Syrer erhalten medizinische Versorgung. Das alles wird mit dem damals zugesagten Geld finanziert und führt dazu, dass sich kaum noch Syrer in Boote setzen und übers Mittelmeer nach Griechenland fahren. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 16.000 Syrer, das sind bei 3,6 Millionen Syrern in der Türkei sehr, sehr wenige. Allein durch Geburten wächst die Zahl der Syrer in der Türkei jedes Jahr um mehr als hunderttausend.
Und wie ist es mit den vielen Flüchtlingen auf den griechischen Inseln?
Das klappt überhaupt nicht, hat nie geklappt und führt gerade zu einer humanitären Katastrophe. Man ist unfähig zur humanen Aufnahme und schnellen Verfahren. Das war zugesagt und ist essenziell, um Leute von den griechischen Inseln in die Türkei zurückzuschicken. Das klappt gar nicht und Griechenland war von Anfang an nicht in der Lage, das durchzusetzen. Heute ist das griechische Asylsystem kurz vor dem Kollaps. Eigentlich ist es schon fünf nach zwölf. Wenn nicht bald etwas passiert, wird dieses Abkommen nicht an der Türkei scheitern, sondern am Unvermögen der EU, diese Rückführung durchzusetzen.
Über Gerald Knaus
Gerald Knaus ist ein österreichischer Soziologe, Migrationsforscher und Zuwanderungsexperte. Er ist Mitgründer des Vereins "Europäische Stabilitätsinitiative" und dessen Vorsitzender. 2015 hatte er den "Merkel-Plan" entwickelt, auf dessen Grundlage im März 2016 der Flüchtlingspakt mit der Türkei vereinbart wurde.
Hat die Türkei ihren Teil des Abkommens erfüllt?
Es gibt so viele Dinge, die man der Türkei in den letzten Monaten vorwerfen kann. Aber als Land, das dreimal mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen hat als die gesamte EU zusammen, und in dem es keine Lager gibt, wie man sie auf Lesbos oder Samos sieht, liegt der Ball hier klar bei der EU. Wir müssen die Standards, die wir uns selbst gegeben haben, auch durchsetzen, um zu zeigen, dass wir es ernst meinen.
"Dass wir von einem Bürgerkriegsland wie Libyen abhängen, ist ein Armutszeugnis für die Europäische Union."
Sehen Sie die Schuld bei der griechischen Regierung?
Das ist zu einfach gedacht. Griechenland hatte im letzten Jahr pro Kopf die höchste Zahl an Asylanträgen innerhalb der EU. Auf die Bevölkerung Deutschlands hochgerechnet, entspräche das über 600.000. Und Griechenland hat nicht die Verwaltungsressourcen wie Deutschland. Wenn es in diesem Jahr noch mehr werden, ist es so, als würde Griechenland zweimal das durchleben, was Deutschland 2015 erlebt hat. Und wir wissen, was in Deutschland danach politisch passiert ist.
Was muss Ihrer Meinung nach passieren?
Wir brauchen seriöses Handeln der Länder, die davon betroffen sind. Und das ist vor allem Deutschland, natürlich auch Griechenland sowie Kroatien, das auf der Strecke zwischen Griechenland und Deutschland liegt. Diese Länder müssen überlegen, wie sie in Griechenland dieses Rückführungsabkommen durchsetzen. Wenn das nicht gelingt, dann sind alle Diskussionen, Pläne und Ankündigungen einer humanen Grenz- und Flüchtlingspolitik der EU Luftschlösser.
Wie sieht denn die aktuelle Migrationspolitik der EU aus?
Sie besteht aus zwei Komponenten. Die eine ist das vollkommene Fehlen von irgendeinem mittelfristig umsetzbaren Plan, wie man die Grenzen human kontrollieren will. Das gelingt uns derzeit nirgendwo. Es fehlt uns jedes Konzept dafür. Stattdessen setzen wir auf Abschreckung durch Untergraben und Unterwandern unserer eigenen Standards. Wenn auf den griechischen Inseln Menschen für Monate in Bedingungen hausen, wie wir sie in Pakistan nicht finden, dann haben wir eine Situation, bei der die EU durch Rechtsbruch, also durch Verletzung von Konventionen und Standards, irgendwie versucht, Leute davon abzuhalten, zu kommen. Das ist Europas nicht würdig.
Kann es sein, dass auch aus Libyen und dem Libanon nochmal viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden?
2019 war es interessanterweise so, dass wir weniger Menschen hatten, die nach Europa kamen. Es waren 12.000 Flüchtlinge in Italien. Und selbst bei dieser Menge kam es zu wochenlangem Feilschen zwischen EU-Ländern, wer diese Leute aufnimmt. Nach wie vor sind wir von libyschen Milizen abhängig, die in Nordafrika dafür sorgen, dass die Migranten nicht die Außengrenzen der EU erreichen. Da werden Menschen in Lagern festgehalten und misshandelt. Dass wir von einem Bürgerkriegsland wie Libyen abhängen, ist ein Armutszeugnis für die Europäische Union. Das ist Zeugnis einer fehlenden Strategie.
"Wenn wir europäische Werte retten wollen, auch europäische Interessen, dann muss eine Koalition aus Staaten bereit sein, voranzugehen."
Was müsste denn getan werden, um das zu ändern?
Die Lösung liegt auf der Hand. Wir müssen uns energischer mit den Herkunftsländern auseinandersetzen, indem wir sie überzeugen und es ermöglichen, jene, die keinen Schutz brauchen, nach schnellen Verfahren ganz schnell zurückzuführen. Dann würden diese Menschen auch nicht mehr kommen, wenn sie keinen Schutz brauchen. Unter diesen 12.000 Menschen, die vergangenes Jahr kamen, waren die meisten aus Tunesien, Pakistan, der Elfenbeinküste und Algerien. Das sind zum Großteil Länder, für die die Anerkennungsquoten für den Flüchtlingsstatus extrem niedrig sind. Wenn wir zum Beispiel eine Einigung mit Tunesien hätten, dass es seine Staatsbürger, die keinen Schutz brauchen, zurücknimmt und Tunesier im Gegenzug die Möglichkeit legaler Einwanderung, Visa-Erleichterungen und Stipendien erhalten, dann könnte die EU dieses Problem lösen, ohne sich auf libysche Milizen zu stützen. Das müssen wir dringend tun.
Wenn das so klar ist, warum wurde das bisher nicht umgesetzt?
Es ist eine Reihe von Gründen. Wir führen Scheindebatten, auch auf europäischer Ebene. Da wurde letztes Jahr eine Verstärkung der Grenzschutzagentur Frontex versprochen. Man dachte, wenn da erst einmal 10.000 finnische, rumänische und polnische Grenzschützer in Griechenland sind, wird alles besser. Das ist völlig absurd. Diese Debatten lenken von den wirklichen Herausforderungen ab. Außerdem sind die EU und die europäischen Institutionen oft nicht der richtige Rahmen.
Was meinen Sie damit?
Das Deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat die Fähigkeit, sehr viele Asylentscheidungen schnell zu treffen. Das hat es in der letzten Zeit auch bewiesen. Auf EU-Ebene wird allerdings die EU-Hilfsorganisation EASO auf Malta bevorzugt, die noch sehr jung und schwach ist. Wenn die deutsche Asylbehörde zusammen mit der niederländischen und der französischen versuchen würde, Griechenland zu helfen, dann könnte das klappen. Wenn es über die EU läuft, muss man wahrscheinlich noch Jahre warten, bis dort die Expertise vorhanden ist, die das Bamf in den letzten Jahren erworben hat.
Das heißt, eigentlich müssen sich die Nationalstaaten um das Problem kümmern?
Wir brauchen eine Koalition der betroffenen Staaten. Wenn wir europäische Werte bewahren wollen, auch europäische Interessen, dann muss eine Koalition aus Staaten bereit sein, voranzugehen.
Und die EU als Organisation ist nicht in der Lage, das Problem zu lösen?
Es gibt in der EU das Problem, dass Beschlüsse nach dem Einstimmigkeitsprinzip getroffen werden. Das heißt, wenn ein Land sich sperrt, gibt es Probleme. Jetzt ist es so, dass die Regierungen mancher Länder gar kein Problem damit haben, dass dieses Flüchtlingsthema jeden Tag in den Schlagzeilen ist, weil sie mit ihrer eigenen Politik davon profitieren, obwohl sie gar nicht davon betroffen sind. Zum Beispiel Ungarn oder Polen. Dort kommen so gut wie keine Flüchtlinge hin und die Bereitschaft, Deutschland oder Griechenland zu helfen, ist dort auch nicht sehr ausgeprägt. Das zweite Problem ist, dass in der EU die Ressourcen gar nicht da sind. Wenn man unseren Vorschlag umsetzen wollte und den Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen, Visa oder Stipendien anböte, dann müssten das die Nationalstaaten tun, nicht die EU.
Deutschland, Frankreich, Spanien und die Niederlande könnten sich zusammenschließen und mit Ländern wie Tunesien oder Marokko sprechen, so wie es Deutschland 2016 mit der Türkei gemacht hat. Dann könnte etwas passieren, was im Interesse aller ist, nämlich eine Lösung für die Flüchtlingsproblematik erarbeitet werden. So wie die EU heute strukturiert ist, funktioniert es anders nicht.
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