watson: In den vergangenen beiden Ampel-Jahren war es ruhig um die SPD – und um die Jusos. Habt ihr euch von der Kanzlerschaft einlullen lassen, Philipp?
Philipp Türmer: Für die Jusos möchte ich das zurückweisen. Die SPD musste nach der Wahl erst einmal in die Rolle finden, dass sie nun den Regierungschef stellt. Das ist alles neu gewesen. Im letzten halben Jahr hat aber eine Emanzipation stattgefunden, die Partei wagt sich zunehmend mehr, eigene Inhalte und Standpunkte zu vertreten. Es ist ganz wichtig, dass sich eine Partei weiterentwickelt, auch wenn sie den Kanzler stellt. Dafür sorgen wir Jusos im Zweifel auch gerne.
Trotzdem war auch der Druck der Jusos bis zu dem Asyl-Interview des Kanzlers gering.
Auch wir mussten eine Zeit lang darüber nachdenken, wie wir mit der neuen Situation umgehen. Jahrelang war die Beschreibung der Jusos: Wir sind gegen die Große Koalition. Dass die abgewählt wurde, empfinden wir als Erfolg. Mittlerweile haben wir unsere Rolle aber gefunden und fordern ganz klar, dass die Ampel einen stärker an Verteilungspolitik und Armutsbekämpfung ausgerichteten, sozialdemokratischen Kurs bekommt.
Die Parteispitze will die SPD mit ihren Leitanträgen zum Parteitag wieder weiter nach links schubsen. Bist du erleichtert darüber?
Im Leitantrag zur Transformation unseres Landes konnten wir gestern bereits wichtige Dinge beschließen, zum Beispiel, dass wir in Zukunft endlich die Schuldenbremse loswerden oder eine Abgabe auf große Vermögen. Aber bei anderen Themen werden wir noch weitere Diskussionen führen müssen, zum Beispiel in der Migration oder der Bildung.
Was bedeutet die Neuausrichtung der SPD für junge Menschen?
Sehr viel. Die SPD will gerade eine Zukunftsvision zeichnen. Es geht um die Frage, wie der Wohlstand dieses Landes in eine Zeit der Klimaneutralität überführt werden kann. Das ist für uns junge Menschen die zentrale Frage, schließlich leben wir noch sehr lange und wir wollen wissen, wie unser Leben in Zukunft aussehen wird. Die Leitanträge vereinen Klimapolitik und die wirtschaftliche Situation Deutschlands. Das steht sehr wesentlich für meine Generation.
Wir haben das Jahr 2023. Olaf Scholz ist bereits 2021 als Klimakanzler angetreten. Ist die SPD mit ihrer Ausrichtung zu spät?
Die Klimatransformation geht über eine lange Strecke. Natürlich hätten wir deutlich früher damit anfangen müssen; das gilt aber für uns als gesamte Gesellschaft. In den letzten zwei Jahren wurden erste Grundlagen gelegt, wie etwa der Ausbau erneuerbarer Energien für die Energiewende. In Summe ist natürlich noch nicht genug passiert, aber es ist wichtig, dass wir uns jetzt Gedanken über die nächsten Schritte machen. Ganz konkret geht es um die Frage, wie wir unsere Industrie klimaneutral aufstellen – was müssen wir transformieren? Das alles folgt einer Logik.
Seit einigen Wochen steht die Ampelregierung vor einem 60 Milliarden Euro Haushaltsloch. Was ist die Antwort der Jusos auf das Chaos?
Kurzfristig, und da vertreten wir die einzig vernünftige Antwort, fordern wir eine Aussetzung der Schuldenbremse.
Davon, die einzig vernünftige Antwort zu haben, sind wohl alle Akteur:innen überzeugt.
Bei den anderen Vorschlägen kann ich aber nicht erkennen, wie das gelingen soll. Ganz abgesehen davon, dass ich es absolut falsch finde, sehe ich nicht wo im Sozialbereich 60 Milliarden Euro eingespart werden sollen. Ganz klar: Für 2024 muss die Schuldenbremse erneut ausgesetzt werden. Es versteht doch niemand, dass die Krisen plötzlich wie aus Zauberhand am 01. Januar vorüber sein sollen. Auch unsere grundsätzliche Ablehnung der Schuldenbremse war nie nur eine verrückte linke Juso-Forderung.
Nicht?
Im internationalen Vergleich liegt unsere Position im ökonomischen Mainstream. Keine andere Industrienation operiert in dieser akuten Phase der Transformation mit derart strikten Budgetregelungen, nur Deutschland versucht einen Sonderweg zu gehen. Und scheitert damit.
Die FDP würde jetzt argumentieren, dass es unfair für junge Menschen ist, wenn sie einen stark verschuldeten Staat vererbt bekommen. Was bedeutet Generationengerechtigkeit für dich?
Wir dürfen jungen Menschen und nachfolgenden Generationen keinen kaputtgesparten Staat hinterlassen. Vielmehr sollten wir eine Infrastruktur hinterlassen, die in gutem Zustand ist. Dazu gehören moderne Schulen, ein gutes Gesundheitssystem. Natürlich dürfen wir nicht die Basis unseres Wohlstandes verspielen: die Industrie. Die müssen wir transformieren und das wird nur gehen, wenn wir auch staatliches Geld reinstecken.
Du hast gerade vom Sozialstaatsabbau gesprochen, der als Lösung des Haushaltschaos präsentiert wird. Gleichzeitig ist die AfD mittlerweile in Ostdeutschland die stärkste Kraft.
Gerade in dieser Situation ist es wichtig, dass die Regierung nicht das Bild des überforderten Staates reproduziert, das den Rechten so sehr nutzt. Die Haushaltskrise muss schnellstmöglich gelöst werden und gleichzeitig muss die Regierung deutlich machen: Wir tragen das nicht auf den Schultern der Schwächsten aus.
In Ostdeutschland gibt es zahlreiche Regionen, wo viele Menschen vom Mindestlohn profitieren. Ein Produkt, das auch eng mit der SPD verknüpft ist. Trotzdem kommt die SPD da nicht an.
Wir wurden von der Entwicklung der Inflation überholt. Die zwölf Euro im Portemonnaie der Menschen waren nicht mehr so viel wert, wie wir uns das erhofft haben. Deshalb setzen wir uns für einen deutlich höheren Mindestlohn ein, wir wollen 15 Euro.
Olaf Scholz hat den Bürger:innen in seiner Regierungserklärung einmal mehr versprochen: "You'll never walk alone". Was erwartest du vom Kanzler in dieser Debatte?
In der aktuellen Situation trauen die Ampelparteien einander nicht mehr über den Weg. Und Olaf moderiert nur zwischen den beiden Streithälsen Grüne und FDP. Dabei ist es so wichtig, dass der Kanzler jetzt einen klaren sozialdemokratischen Kurs vorgibt. Und wenn die FDP sich nicht durchringen kann, die Schuldenbremse 2024 auszusetzen, muss er sie eben daran erinnern, dass sie der kleinste Partner sind.
Bestellst du gerade Führung?
Ich befürchte, das tue ich.
Du hast von der No-GroKo-DNA der Jusos gesprochen. Es wäre nicht das erste Mal also, dass die SPD auch durch Druck der Jusos umgekrempelt würde. Wird es mal wieder Zeit für eine neue SPD?
Die Umfrageergebnisse, die 2019 zur Neustrukturierung der Partei geführt haben, sind besser als die Ergebnisse, die die SPD heute hat. Deshalb fordern wir als Jusos so deutlich, dass es so nicht weitergehen kann. Uns liegt etwas an dieser Partei und der Gesellschaft, die so dringend richtig gute sozialdemokratische Politik braucht.
2019 war auch das Jahr, in dem Saskia Esken das erste Mal Vorsitzende der SPD wurde, gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans. Wäre es Zeit für einen erneuten Wechsel der Führungsriege?
Damals ging es stark um das Vorsitzamt, jetzt geht es eher darum, wie sich die Partei in der Regierung positioniert. Die SPD ist nicht mehr Juniorpartnerin, sondern Kanzlerpartei. Deshalb wird sie auch stark daran gemessen, was sie in Berlin wirklich umsetzt. Das ist der Grund, weshalb wir jetzt so starken Druck machen müssen. Damit der Kanzler den Kurswechsel der Regierung vorantreibt.
Wird so Sozialdemokratie wieder sexy?
Für sozialdemokratischen Wahlerfolg braucht es neben den Debatten um einen starken Sozialstaat, der sich um seine Bürger:innen sorgt, auch Visionen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll. Wir müssen den Wandel nicht nur begleiten, sondern auch der Motor dafür sein – und dafür sorgen, dass er nicht von den Schultern der Schwächsten gestemmt wird. Gerade fehlt es daran, die Zukunftsvision auszufüllen. Nach dem Parteitag wird es dann darum gehen, unsere Beschlüsse unter die Menschen zu tragen.
Auch die Grünen hatten gerade ihren Parteitag. Statt Selbstkritik gab es vor allem Kritik an CDU-Chef Friedrich Merz – erwartest du am SPD-Parteitag eine ähnlich flauschige Stimmung?
Nein. (lacht)
Dafür gibt es zu viele wichtige Debatten zu führen.