Viel Blut wurde vergossen im Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen. Monate voller Leid, Tränen und Tod liegen hinter den Menschen. Nun haben sich die Vermittler für eine Gaza-Waffenruhe nach Klärung von Details laut Israel abschließend geeinigt, ab Sonntag soll der Waffenstillstand in Kraft treten. Nach Informationen der "Times of Israel" ist die Abstimmung der Regierung für Samstagabend geplant.
Die Feuerpause soll zunächst für 42 Tage gelten. 33 der insgesamt 98 verbliebenen Geiseln in der Gewalt der Hamas sollen demnach freigelassen werden. Im Gegenzug dafür sollen israelischen Angaben zufolge Hunderte palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freikommen.
Weltweit jubeln die Menschen. Sie hoffen, dass die Waffen nun wirklich ruhen werden und dies einen ersten Schritt in Richtung Frieden bedeutet. Dass sie ihre Familienmitglieder wieder in die Arme schließen können.
Doch die Angst bleibt, auf beiden Seiten.
Auch bei Sarah Cohen-Fantl. Sie ist deutsch-israelische Reporterin, die seit 2016 aus Israel berichtet, zwischenzeitlich lebte sie auch in Berlin. 2024 ist sie nach Tel Aviv zurückgekehrt, wo sie mit ihrem Ehemann und zwei Kindern lebt. Jetzt schildert sie auf Anfrage von watson ihre Eindrücke aus Israel und berichtet von der Sorge um die Geiseln und der Angst um die Zukunft des Landes.
"Es ist eine ganz merkwürdige Stimmung im Land", erklärt sie nach Ankündigung der Waffenruhe. Nach so einer langen Anspannung, Hunderten Tagen Kampf um die Rettung und Freilassung der Geiseln, den vielen Toten und Beschuss, sei die Mehrheit aktuell überwältigt von Gefühlen.
Auch sie habe nach dem Bekanntwerden der geplanten Vereinbarung viele Tränen vergossen. "Da wird einem bewusst, wie viel Anspannung wir seit dem 7. Oktober jeden Tag in uns tragen", schildert sie. Seit jenem Tag – als die Hamas Israel brutal überfiel, 1200 Menschen tötete und mehr als 250 Geiseln nahm – hat sich vieles verändert in Gaza und Israel.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schlug zurück. Das selbsternannte Ziel: Die Hamas komplett auszulöschen. Die humanitären Kosten der Bevölkerung in Gaza waren groß.
Doch auch in Israel ist das Leben nicht mehr das gleiche. Die Menschen leiden an den Folgen und des Traumas, die der Hamas-Überfall, die vielen verschleppten Geiseln und der Krieg mit sich brachte. "Man kann in Israel keinen Schritt tun, ohne an unsere Geiseln und den Krieg erinnert zu werden", sagt sie.
Nach Bekanntwerden des Waffenruhe-Deals habe die Journalistin als erstes der Mutter von Naama geschrieben, eines der jungen israelischen Mädchen, dessen Bilder ihrer Entführung um die Welt gegangen sind. Dass sie und andere Geiseln in Gewalt der Hamas jetzt nach Hause kommen sollen, erweckt Hoffnung.
Aber: "Es tanzt hier niemand auf der Straße, nein." Zu groß sei die Befürchtung, dass doch noch etwas schiefgehen könnte, dass möglicherweise doch nicht mehr alle Geiseln leben. Dazu kommen innenpolitische Spannungen rund um Premierminister Netanjahu und Stimmen, die den Deal kritisieren. "All das ist eine Zerreißprobe für unsere Nerven", sagt Cohen-Fantl.
Klar ist: Der Deal bedeutet nicht eine Freilassung aller Geiseln. In der ersten Phase soll die Hamas 33 von ihnen freilassen, zuerst Zivilistinnen und Soldatinnen sowie Minderjährige unter 19 Jahren, danach Männer über 50 Jahre.
Für jede zivile Geisel werden 30 palästinensische Gefangene aus israelischer Haft entlassen werden. Für jede freigelassene israelische Soldatin sollen 50 palästinensische Gefangene freikommen. Mindestens drei Geiseln sollen in jeder Woche dieser ersten Phase freikommen. Insgesamt sind jedoch noch etwa hundert Geiseln in der Gewalt der Hamas.
Die israelische Journalistin betrachtet den Deal als schlecht und kritisiert einige Details massiv: "Das perfide: Israel soll erst in der ersten Woche des Deals erfahren, wer von ihnen noch am Leben ist. Es fehlen dann aber noch 65 weitere Geiseln."
Über deren Freilassung solle erst nach zwei Wochen des aktuellen Deals nachverhandelt werden. Das stoße sehr vielen Menschen in Israel "übel" auf. Die Sorge sei groß, dass die restlichen Söhne, Väter und Ehemänner Israels es nicht nach Hause schaffen werden.
Dass die Geiseln teils im Tausch gegen "Terroristen" und "Mördern" freigelassen werden, kritisiert sie ebenfalls. "Das sind Männer, die haben Menschen mit einer Axt in einem Park erschlagen oder ganze Familien mit Kleinkindern massakriert. Das ist in Israel ein hochsensibles und sehr umstrittenes Thema", so ihr Urteil.
Dazu komme die Angst vor der Hamas, die Angst vor erneuten Überfällen und Angriffen. Zwar stelle die palästinensische sunnitisch-islamistische Organisation nicht mehr die gleiche Bedrohung dar wie vor den Ereignissen des 7. Oktober. Aber: "Allen in Israel ist bewusst, dass so lange Hamas noch in Gaza der politische Anführer ist, es keine positive Veränderung geben kann."
Netanjahu hat in den 15 Monaten Krieg nie genau umrissen, wie er sich eine künftige Regierung im Gazastreifen vorstellt. Er hatte jedoch stets betont, dass die Hamas entmachtet und zerschlagen werden müsse.
Die Hamas hat ihre wichtigsten Anführer und auch weitgehend die Kontrolle in Gaza verloren. Sie ist geschwächt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Ihre politische Rolle, ebenso in Zukunft, ist wohl kaum zu leugnen – auch, wenn sich die israelische Seite das anders wünscht. "Ein Ende des Konflikts ist der Wunsch der meisten, doch das scheint in weiter Ferne", glaubt Cohen-Fantl.
Konflikt- und Friedensforscher Thorsten Bonacker verweist auf watson-Anfrage auf die Fragilität der geplanten Schritte: "Ich gehe davon aus, dass Israel sich nur dann an den Waffenstillstand gebunden fühlt, wenn die Hamas keine Anstalten unternimmt, sich militärisch zu reorganisieren."
Ein Waffenstillstand sei immer ein erster Schritt auf dem Weg zu einer politischen Lösung. Alles Weitere müsse dann verhandelt werden. "Waffenstillstände garantieren keinen Erfolg. Dafür müssen sich die Konfliktparteien einem Prozess verpflichtet fühlen, der zu einer solchen Lösung führt", stellt er klar.