Triggerwarnung: In diesem Artikel werden konkrete Gewalthandlungen thematisiert und geschildert. Er kann daher retraumatisierend wirken und negative Gefühle auslösen.
Neun Monate nach Beginn des neuen Nahost-Kriegs blickt die Weltöffentlichkeit immer noch schockiert nach Gaza. Tod, Zerstörung und Vertreibung sind in dem schmalen Landstrich am Mittelmeer Alltag. Doch während Israel im Süden mit Bomben, Drohnen und schwerer Artillerie agiert, spielt sich im Westjordanland derselbe Konflikt mit anderen Mitteln ab.
Wie die Gewalt auch ohne schweres Gerät eskalieren kann, zeigen Bilder vom Wochenende. Auf dem Kurznachrichtendienst X kursiert derzeit ein Video von einer Konfrontation israelischer Siedler und einer Gruppe von Palästinensern in Begleitung von Aktivist:innen. Für einen deutschen Mitarbeiter endet der Tag mit schweren Verletzungen in der Notaufnahme.
Was ist passiert? Das Handyvideo entstand beim Besuch eines Olivenhain in der Nähe von Qusra in der Westbank. Seit Kriegsbeginn waren die palästinensischen Besitzer durch Gewaltandrohungen von der Plantage abgeschnitten gewesen. Warum sich die Bauern nicht ohne Begleitung von Mitarbeiter:innen der NGO Defend Palestine auf die Felder trauten, zeigen die Jagdszenen, die sich entfalteten.
Die schwer verdaulichen Bilder zeigen, wie Vermummte auf einem Feldweg unvermittelt auf die Gruppe aus Olivenbauern und Aktivist:innen zustürmen. Mit hölzernen Knüppeln prügeln die Siedler wahllos drauflos und landen mehrere schwere Treffer.
US-Aktivistin Vivi Chen schilderte später dem US-Nachrichtensender CNN die Eskalation: "Eine Weile standen sie einfach herum, dann kamen sie hoch zu uns internationalen Freiwilligen und starteten auf uns mit diesen Holzknüppeln einzuprügeln, wie mit Baseballschlägern."
Klar zu sehen ist auf den Bildern, wie Aktivist:innen und Bauern sofort den Rückzug antreten. Trotzdem schlagen die Angreifer weiter zu, stoßen eine Aktivistin, die die Szene filmt, von der Hügelflanke und benutzten auch einen Felsbrocken zur Attacke.
Zum Opfer des Angriffs wurde auch der Deutschamerikaner David Hummel. Er trug einen grotesk geschwollenen Kiefer von der Konfrontation davon und erinnerte sich später: "Wir haben nichts getan. Unsere Hände waren oben, wir zogen uns zurück und versuchten einander zu schützen." Er zeigte sich geschockt von den "sehr gewalttätigen" Siedlern.
Aufgelöst wurde die Situation durch das Eingreifen des israelischen Militärs. Gegenüber CNN räumte die Armee ein, dass "eine Anzahl maskierter israelischer Zivilisten eine Gruppe ausländischer Bürger attackierte, während diese Bäume pflanzte." Die Soldaten feuerten Warnschüsse in die Luft und vertrieben die Angreifer so. Trotz der Gewalt verzichteten die Soldaten auf Festnahmen.
Nicht äußern wollte sich das Militär dagegen zu den Vorwürfen, die die Aktivist:innen gegen einen Soldaten erhoben. Dieser soll beim Eintreffen zunächst die Waffe gegen einen der Palästinenser gerichtet und einen Schuss in dessen Richtung abgefeuert haben. "Die haben mit scharfer Munition auf ihn geschossen", zitiert CNN die Aktivist:innen. Der Mann blieb unverletzt.
Die Verletzten wurden in eine Einrichtung des Roten Halbmonds im nahegelegenen Nablus eingeliefert. Dort wurden Knochenbrüche, Hämatome und Schnittwunden behandelt.
Ein Defend-Palestine-Koordinator klagte im Anschluss: "Die Attacke heute, nicht einmal 24 Stunden nachdem der Internationale Gerichtshof die israelische Besatzung als illegal befunden hat, zeigt erneut, wie dringend wir internationalen Zivilschutz in Palästina brauchen." Aktivistin Chen bekannte: "Unsere Verletzungen sind zu vernachlässigen, verglichen damit, was den Palästinensern täglich begegnet."
Das Westjordanland untersteht seit der Eroberung im Sechstagekrieg 1967 der Militärgerichtsbarkeit Israels. Seitdem betreibt Israel eine Siedlungspolitik, die von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig verurteilt wird. In den vergangenen Jahren hat sich der Zuzug von Siedler:innen im besetzten Gebiet deutlich beschleunigt.
Während die Weltgemeinschaft das Westjordanland als palästinensisches Territorium betrachtet, gehören "Judäa und Samaria", so die israelische Bezeichnung, allein dem jüdischen Staat an.
Bei den meisten Siedler:innen, die sich auf dem besetzten Gebiet niederlassen, handelt es sich um ultraorthodoxe Jüd:innen, die das Westjordanland für von Gott gegebenes Land halten. Seit der Hamas-Attacke auf Israel sind im Westjordanland 579 Palästinenser:innen getötet worden, davon knapp 150 Kinder.