Großbritannien ist weiter im Corona-Ausnahmezustand: Der Personen- und Warenverkehr zum europäischen Kontinent ist fast vollständig aufgehoben. In der Hauptstadt London, in anderen Regionen im Süden Englands und Teilen von Wales gelten besonders harte Corona-Beschränkungen.
Wie erleben junge Menschen aus Deutschland den harten Lockdown in Großbritannien? Wie hart trifft es sie, dass sie dieses Weihnachten nicht von der Insel wegkommen und ohne ihre Familie feiern müssen? Watson hat mit dem 35-jährigen Andreas gesprochen, der seit fünf Jahren in London lebt – und diesmal sein erstes Weihnachten ohne Familienfeier erleben wird.
Ich komme ursprünglich aus Baden-Baden, seit fünf Jahren lebe ich in England, momentan im Norden von London. Bis vor ein paar Monaten habe ich in einem Start-Up gearbeitet, vor Kurzem habe ich einen neuen Job als Multimedia-Designer für Lerninhalte gefunden. Ich wäre eigentlich gerne an Weihnachten nach Deutschland gefahren. Seit ich in Großbritannien lebe, bin ich immer nach Hause gereist. In diesem Jahr haben wir uns aber alle darauf geeinigt, dass es nicht sein muss, das hatten wir schon Ende November entschieden, als wir hier im zweiten Lockdown waren.
Ich wohne hier mit meiner Freundin zusammen, wir werden es uns in diesem Jahr zu zweit gemütlich machen – und das Mittagessen am ersten Weihnachtstag immerhin per Zoom zusammen mit der Familie verbringen.
Mehrere meiner deutschen Freunde hier sind aber nach Deutschland geflogen über Weihnachten. Ich nehme das auch niemandem übel. Soweit ich weiß, hat bisher keiner von ihnen Probleme bei der Einreise oder danach gehabt. Viele von ihnen versuchen, sich auf das Coronavirus testen zu lassen, sie halten sich an die Hygiene- und Abstandsregeln und passen gut auf ihre Lieben und sich selbst auf.
Meine Familie habe ich zum bisher letzten Mal im September gesehen. Wir waren zusammen in Südtirol im Urlaub, damals waren die Infektionszahlen noch relativ okay. Wann ich sie zum nächsten Mal wiedersehen werde, weiß ich nicht. Die Situation ist im Moment schwierig, Großbritannien ist ja wegen der neuen Coronavirus-Mutation jetzt so gut wie isoliert. Dazu kommt noch die Unsicherheit hinzu, wie es nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase weitergeht. Ich habe momentan keine Reisepläne. Ich habe vor, im Laufe des nächsten Jahres mal nach Deutschland zu kommen. Aber wann, das werde ich dann entscheiden, wenn es irgendwie sinnvoll erscheint.
Ich habe mich mit der Situation zu Weihnachten arrangiert. Dabei hilft mir tatsächlich auch, dass ich diese Woche mit meiner Familie im September hatte, das war relativ intensiv. So lässt sich das Weihnachten ohne Familie besser aushalten. Und es ist ja auch Besserung in Sicht, in Großbritannien haben die Impfungen begonnen, im Rest Europas geht es bald los. Ich versuche, möglichst optimistisch zu sein.
Das Wichtigste ist ja, dass es gesundheitlich allen gut geht. Meine Eltern sind in einem Alter, in dem das Risiko einer schweren Covid-Erkrankung besonders groß ist. Mir ist am wichtigsten, dass wir in Zukunft noch viele weitere Weihnachten zusammen haben können.
Ich selbst glaube, dass ich Covid-19 schon hatte. Ich hatte schon zwischen März und April ziemlich starke Symptome: starken Husten, Fieber. Der Husten hat zwei Monate lang gedauert. Jedes Mal, wenn ich lachen musste oder eine Steigung hochgegangen bin, musste ich husten. Meiner Freundin ging es ähnlich. Damals war es für uns aber völlig unmöglich, an einen Corona-Test zu kommen. Mehrere Freunde und Bekannte hatten Covid, zum Glück hat es aber niemanden wirklich hart erwischt.
In den Medien hier und in Deutschland wird berichtet, dass in Großbritannien Lebensmittel oder Medikamente knapp werden könnten, weil die Verbindungen zum Kontinent gekappt sind. Ich weiß nicht, wie wahrscheinlich das ist. Im Moment ist davon zum Glück noch nichts zu spüren: Am Dienstagmorgen war ich einkaufen, die Regale sind voll wie immer.
Man muss jetzt abwarten und gucken, wie sich die Lage in Großbritannien weiter entwickelt. Wenn hier nach der Isolation und nach dem Brexit tatsächlich der Lebensstandard stark sinkt, dann heißt es vielleicht doch, zurück nach Deutschland. Irgendwie ist das schon eine Option.
Andererseits versuche ich, mich nicht zu sehr in Panik versetzen zu lassen. Das ist vielleicht das Wichtigste, das ich in diesem komischen Jahr 2020 gelernt habe. Die Nachrichtenlage ist ja oft so unklar, oft wird über Vermutungen berichtet, bevor sie eigentlich spruchreif wären. Ich sage mir: Erstmal abwarten, damit lebt man gesünder.
Auch in meinem direkten Umfeld hier sind alle Menschen relativ ruhig geblieben, alle haben einen ziemlich realistischen Blick auf die Lage. Nur die Schwester eines meiner Freunde ist abgedriftet in das Corona-Leugner-Lager, das führt natürlich zu Stress in seiner Familie. Ansonsten beobachte ich, dass hier in London die allermeisten Menschen Maske tragen und sich mit den Regeln und der Situation arrangieren. Auf der Straße ist hier wenig zu spüren von Panik.
Aber es gibt auch die Menschen, die sich nicht um die Regeln scheren. Der Fall um Dominic Cummings – den Berater von Premier Boris Johnson, der mitten im Lockdown mit seiner Familie quer durchs Land gefahren ist – hat das Misstrauen gegenüber der Regierung verstärkt. Gerade bei denen, die die Konservativen sowieso kritisch sehen. Und es stimmt ja auch: Die Corona-Politik wirkt hier schon sehr mit der heißen Nadel gestrickt. Es gibt Enthüllungen über Politiker, die sich an der Krise selbst bereichern und Aufträge an Kollegen und Freunde vermitteln.
Hier in London nehme ich aber wahr, dass dieses Misstrauen eher dazu führt, dass die Leute ziemlich strenge Anti-Corona-Regeln befolgen. Nach dem Motto: Die Regierung weiß nicht, was sie tut, sie müsste klarere Regeln schaffen – deswegen halten wir uns selbst an unsere eigenen Regeln.
London ist seit kurzem im härtesten Lockdown, meinen persönlichen Alltag hat das aber ehrlicherweise nicht großartig verändern. Ich war den ganzen Sommer im "Furlough", der britischen Form von Kurzarbeit, habe nur wenig gearbeitet. Dann war ich ab Ende Oktober arbeitslos und habe einen neuen Job gesucht. Seit die Pandemie uns erreicht hat, hat sich mein Alltag eigentlich wenig verändert. Wir haben einen Hund, mit dem muss ich zweimal pro Tag vor die Tür, das ist auch erlaubt. Was mich am ehesten einschränkt, ist, dass hier keine Konzerte mehr stattfinden. Da gehe ich in normalen Zeiten schon gerne hin.
Wenn ich die Situation hier mit dem vergleiche, was ich aus Deutschland mitbekomme, würde ich sagen: Das Vertrauen in die Corona-Politik ist in Deutschland im Durchschnitt deutlich höher.
In meinem direkten Umfeld ist die Lage sogar eher entspannter als zu Beginn der Pandemie, als die Sorgen größer waren. Die Lage hat sich insgesamt eingegroovt. Mir ist schon bewusst, dass ich hier eher in einer Bubble von Leuten leben, die keine Wähler der Tories von Boris Johnson sind – und London ist sowieso eine Hochburg der Labour Party. Johnson hat aber trotzdem immer noch viele Unterstützer. Viele Konservative finden trotzdem gut, was er macht. Und viele sagen auch, solange er den Brexit hinbekommt, ist ihnen der Rest egal.
(se)