Der russische Präsident Wladimir Putin hat einmal gesagt: "Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie sich zurückwünscht, keinen Verstand." Die Sowjetunion wünscht er sich zwar nicht zurück, aber einen Platz an der Sonne für Russland.
Putin strebt nach einer Rolle auf der politischen Weltbühne, die jener der Sowjetunion oder der des 1917 untergegangenen russischen Zarenreichs in nichts nachstehen soll: Russland als Großmacht – auf Augenhöhe mit den Big Playern USA und China. Ernst genommen und gefürchtet.
Doch mit seinem Krieg gegen die Ukraine durchkreuzt er seine eigenen Pläne. Putin stärkt die von ihm verhasste Nato, er empört zumindest einen Teil seines eigenen Volkes und er verspielt seine geopolitische Machtposition, die er sich in den vergangenen knapp eineinhalb Jahrzehnten aufgebaut hat.
Der Kremlchef sagt, er fühle sich von der Nato bedroht und hintergangen.
Entgegen anderslautender Zusagen in der Vergangenheit vergrößerte sich der Nordatlantikpakt tatsächlich gen Osten – im Nordosten bis nach Lettland, Litauen und Estland und somit bis an die Grenze Russlands.
Was Putin allerdings ignoriert – egal ob bewusst oder wegen seiner Wahnvorstellungen: Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis, das all jene Länder aufnehmen kann, die Schutz suchen. So auch die baltischen Staaten, die 50 Jahre lang Teil der Sowjetunion waren – und eine ähnliche Fremdherrschaft gewiss nicht noch einmal erleben wollen. Im Gegensatz zu Putin sehnt sich nicht jeder nach Mütterchen Russland.
Auch die Stationierung von Flugabwehrraketen kann wohl nur als Affront verstehen, wer vorhat, Raketen abzufeuern, die es abzuwehren gilt. Vielleicht sah Putin den Beitritt des Baltikums in die Nato im Jahr 2004 schon als Hindernis für seinen geplanten Wiederaufbau eines neuen großrussischen Reichs.
Abgesehen davon war die NATO zuletzt eher marode als bedrohlich. Mit seinem Angriff auf die Ukraine hat Putin die "hirntote" Nato (Zitat des französischen Präsidenten Emmanuel Macron) wachgeküsst. Egal, was dieser Konflikt noch mit sich bringt: Das Bündnis muss und wird sich neu aufstellen. Putin hat damit seinen vermeintlichen Widersacher gestärkt, anstatt ihn weiterhin dahinsiechen zu lassen.
Wie am Sonntag nach Kriegsbeginn von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigt, soll Deutschland nun sogar die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufrüsten und das 2-Prozent-Ziel der NATO zukünftig einhalten: zwei Prozent der Wirtschaftsleistung sollen also jährlich ins Militär fließen.
Damit käme Deutschland genau der Art von Investitionen nach, die in vergangenen Jahren von diversen US-Präsidenten gefordert worden waren – nicht nur von Donald Trump. Infolge des Kriegsbeginns erwägen nun auch Finnland – das seit 1939 in Angst vor Russland lebt – und Schweden, der NATO beizutreten.
Bedrohungen von außen und Feinde im Inneren heraufbeschwören, um Stärke zu demonstrieren und die Herzen und Köpfe der eigenen Bevölkerung zu gewinnen. Wessen Herz und Kopf sich nicht gewinnen lässt, die oder der wird als Feind im Inneren mundtot gemacht und weggesperrt.
Es ist eine Strategie, die viele Autokraten verfolgen. Diesem Grundprinzip folgt auch Putin. Aber mit seinem Angriff auf die Ukraine dürfte er auch Sympathisanten und Unterstützer vor den Kopf gestoßen und ihnen einen Stich ins Herz versetzt haben.
Bereits am Tag des Kriegsbeginns demonstrierten zahlreiche Menschen in mindestens 44 russischen Städten und nahmen bereitwillig Festnahmen in Kauf. Unter anderem Ärzte, Politiker und zuletzt 7000 Wissenschaftler kritisierten in offenen Briefen den Machthaber für sein kriegerisches Vorgehen. Bemerkenswerte Aktionen für die Gesellschaft in einem derart repressiven Staat wie Russland.
Natürlich wird es genug Leute geben, die Putins Lüge vom angeblichen "Genozid" an Russen und der "nationalsozialistischen Regierung" in Kiew Glauben schenken. Doch die Bande zwischen Russland und der Ukraine sind eng. Für viele dürfte ein Krieg mit dem Bruderstaat nur schwer nachvollziehbar sein und vermutlich für Entsetzen sorgen, wenn sie sehen, dass ihre Freunde und Familie in Lebensgefahr schweben.
Ruslan Grinberg, Wirtschaftswissenschaftler und Vertrauter des letzten sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow, glaubt, dass Sanktionen das Wir-Gefühl zwischen und Putin und seinem Volk letztlich weiter stärken. Genauso darf und kann man aber auch davon ausgehen, dass die neuerlichen Sanktionen gegen Russland, die diesmal härter als zuvor ausfallen, ein wirtschaftlich schwaches und sozial rückständiges Land weiter destabilisieren und die bereits schwellende Unzufriedenheit in der Bevölkerung weiter anheizen.
Die Schmach nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 saß tief. Putin wollte Russland wieder als Weltmacht etablieren – auf Augenhöhe mit dem und respektiert vom Westen. In den vergangenen 15 Jahren war er tatsächlich auf dem Weg dorthin.
Zwischenzeitlich wurde Russland in die G8-Gruppe der größten Industriestaaten aufgenommen. Darüber hinaus gelang es Russland aber vor allem, in Afrika, im Nahen Osten und im Kaukasus Einfluss zu gewinnen und sich als Big Player zu etablieren, an dem es in diesen Regionen kein Vorbeikommen gibt.
2019 lud Putin rund 40 afrikanische Staaten zu einem Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi ein, womit er sich auf dem Kontinent als Alternative zu den ungeliebten Chinesen einen Namen machte. Der Westen hingegen schien Afrika vergessen zu haben. In der Zentralafrikanischen Republik sicherte Putin dem dortigen Regime die Macht, ging eine militärische Kooperation ein – und löste damit Frankreich als traditionellen Patron ab.
Im bürgerkriegsversehrten Libyen präsentierte sich Putin als Stabilisator; in Syrien unterstützte er erfolgreich Diktator Baschar al-Assad im dortigen Bürgerkrieg. Im Kampf um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan entsandte Russland Friedenstruppen.
Quasi als Blaupause zum späteren Ukraine-Konflikt 2014 knüpfte Russland im fünftägigen Kaukasuskrieg 2008 der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien Staatsgebiet ab – indem er Südossetien und Abchasien völkerrechtswidrig als autonome Staaten anerkannte. Die Konflikte in Armenien, Aserbaidschan und Georgien hat der Westen nahezu ignoriert, Russland hatte dadurch wieder eine ähnliche Machtstellung in der Region wie zu Sowjetzeiten.
2014 folgten schließlich die russische Annexion der Krim sowie die Besetzung des ukrainischen Teils des Donbas durch von Russland unterstützte Separatisten. Das sorgte zwar für Unmut, blieb aber, abgesehen von westlichen Sanktionen, folgenlos. Sewastopol als Hauptstützpunkt der Schwarzmeerflotte war somit fest in russischer Hand – die bisherigen Abkommen mit der Ukraine über die Nutzung waren von da an hinfällig.
Putin gelang damit ein geopolitischer Coup: Mit dem gesicherten Zugang vom Schwarzen Meer über den Bosporus sowie maritimen Stützpunkten in Libyen und Syrien war Russland im Mittelmeer nun präsenter denn je.
Doch mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin den Bogen überspannt und sich diese Erfolge zunichtegemacht. Weltweit schlägt ihm Verachtung für sein Handeln entgegen. Sogar der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, mit dem er sich in Libyen und Syrien mehr oder weniger schiedlich-friedlich auf eine Ko-Existenz einigen konnte, verurteilt den Kremlchef. Das Nato-Mitglied Türkei hat nun sogar den Bosporus für russische Kriegsschiffe gesperrt. Wie unbeliebt muss man sich eigentlich machen, um sogar Erdogan sympathisch erscheinen zu lassen?
Russland wollte wieder respektiert und als Weltmacht anerkannt werden. Doch jegliches Renommee, dass sich Putin in einigen Regionen dieser Welt aufgebaut hat, hat er mit seiner Kriegserklärung gegen die Ukraine völlig verspielt. Statt als geopolitischer Player wird Russland nur noch als eines wahrgenommen: als Schurkenstaat.