Das überbordende Thema ist die Ukraine. Natürlich.
Olaf Scholz ist gerade in den USA, es ist sein erster Besuch, seit der SPD-Politiker im Dezember 2021 zum deutschen Kanzler gewählt wurde. Bei diesem Antrittsbesuch werden US-Präsident Joe Biden und Scholz definitiv ausgiebig über den sich weiter zuspitzenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sprechen. Es werden Vorwürfe von US-Seite kommen, Erklärungsversuche von der deutschen. Nach außen wird große Einigkeit signalisiert – so weit, so gut, so richtig.
Nichts wäre in der aktuellen Situation diplomatisch schlimmer, als dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auch nur den Hauch einer Spaltung des Westens vor die Füße zu legen. Denn das erwartet, das hofft er. Ein gespaltener Westen ist ein schwacher Westen. Etwaige geopolitische Ziele, mögliche weitere völkerrechtswidrige Annexionen ukrainischer Gebiete beispielsweise, würden so für den Kreml-Chef in erreichbare Nähe rücken.
Und das wäre verheerend auch im Hinblick auf mögliche weitere Ziele des russischen Präsidenten wie Polen oder Estland.
Nichtsdestotrotz wird dieser Besuch in den USA auch die Weichen stellen, um die Beziehung zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten entweder neu zu definieren oder in alte Muster verfallen zu lassen.
Wie will sich Deutschland mit Blick auf die USA künftig selbst definieren?
Die Perspektive der USA ist diese: Man hat seit der Gründung im Jahr 1776 quasi das Gefühl, eine von Gott berufene Nation für die Herstellung und Erhaltung der Weltordnung zu sein. Diese Wertvorstellung ist tief in der Geschichte und dem Selbstverständnis verankert.
Und das kommt nicht von irgendwo her: Die Vereinigten Staaten sind die erste moderne Demokratie und Republik der Welt. Daher rührt der amerikanische Grundgedanke, Pioniere einer Utopie von Freiheit und Gleichheit zu sein. Und dieses Selbstverständnis hat in den USA eine Form von Ideologie heraufbeschworen, eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Nationen zu haben.
Schon seit Jahrhunderten leben die Vereinigten Staaten einen Missionsgedanken: Man sieht sich als Heilbringer. Das hat bereits der dritte US-Präsident Thomas Jefferson im Jahr 1809 so formuliert: "Diese einzige Republik, (…) dieser einzige Verwahrungsort des heiligen Feuers von Freiheit und Selbstbestimmung, soll fortan in anderen Regionen der Welt entzündet werden."
Tatsächlich verdankt Deutschland den USA unglaublich viel: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der transatlantische Partner mit dem sogenannten Marshall Plan wirtschaftliche Hilfe geleistet und gleichzeitig politische Hilfestellung gegeben. Die USA haben nicht nur Europa von den Deutschen befreit, sondern auch die Deutschen von sich selbst.
Später in der Nachkriegszeit und noch später in den Jahrzehnten des Kalten Krieges galten sie als Garant der Freiheit. Und schließlich wäre eine deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 ohne amerikanische Unterstützung nicht oder zumindest nicht so früh erreicht worden.
Es ist also kein einfacher Mythos, dass die USA und Deutschland ein langes, teils sehr schwieriges Verhältnis miteinander haben. Dass dieses Verhältnis auch durch Abhängigkeiten des schwächeren Partners, also der Bundesrepublik, geprägt war. Dass Deutschland sich zumindest über Jahrzehnte hinweg dankbar gegenüber dem "großen Bruder" zeigte. Sich in einer Form von Bringschuld sah.
Doch Zeiten ändern sich.
Das hat sich nicht erst nach der Amtseinführung des damaligen republikanischen Polter-Präsidenten Donald Trump herausgestellt. Schon 2013 zeichnete sich eine Form der Verletzung, des Verrats ab, als der amerikanische Geheimdienst NSA unter dem demokratischen Präsidenten Barak Obama deutsche Politikerinnen und Politiker, darunter sogar die damalige Kanzlerin Angela Merkel, abgehört hatte.
Ein Vertrauensbruch, der die Beziehung zwischen großem Bruder und kleinem Geschwisterchen nachhaltig zumindest angekratzt hatte. Doch man war hierzulande noch nicht selbstbewusst genug, um sich abzugrenzen.
Und dann kam Trump.
Ein polternder, wütender Querschläger, der wieder stärker von nationalistischen Gedanken getrieben war. Das über Jahrhunderte gewachsene Selbstverständnis Amerikas als Bringer von Freiheit und Gleichheit verebbte mit seinem Amtsantritt in der außenpolitischen Rhetorik. Und damit wuchs auch das deutsche, das europäische Selbstbewusstsein.
Endlich.
Das lässt sich gut am Handelsstreit ablesen, den die EU mit Trump-Amerika und Trump-Amerika mit der ganzen Welt führte. Hohe Zölle auf europäische Güter wie Wein und Spirituosen und im Gegenzug dann Strafzölle auf amerikanische Güter wie Fleisch, Whiskey.
Als Joe Biden das Amt vergangenes Jahr übernahm, stand er vor einem Scherbenhaufen. Doch er will es wieder richten. Den Zollstreit hat er etwa schon teilweise beigelegt.
Und überhaupt will Biden wieder der lehrende, helfende, beschützende große Bruder werden. Doch er verlangt eine Gegenleistung. Nämlich, dass Deutschland mehr leistet, als es das bisher getan hat.
Womit wir in der Gegenwart wären: Scholz und Biden treffen sich. Und der Bundeskanzler wird vieles dafür tun, das deutsch-amerikanische Verhältnis in einem fabelhaften Licht dastehen zu lassen. Er wird sich erklären müssen, warum es so wirkt, als lasse Deutschland die Ukraine gegenüber der russischen Bedrohung im Regen stehen, warum es aber seiner Auffassung nach eben nicht so ist.
Biden wird hingegen fordern, dass Deutschland eben nicht nur Helme in die ukrainisch-russische Grenzregion schickt, sondern wirkliche militärische Hilfe leistet. Scholz wird entgegensetzen, dass man seit der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim bisher die meiste finanzielle Unterstützung für die Ukraine geleistet habe.
Biden will, dass Deutschland die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht ans Netz anschließt. Diese Option will man sich in der Bundesregierung aber lieber offen halten.
Schon diese sehr erwartbaren Gesprächsabläufe zeigen: Die USA gelten zwar hier in Deutschland und in der Europäischen Union irgendwie noch immer als großer Bruder. Denn man braucht den Bündnispartner, der ganz nüchtern betrachtet, auch einfach sehr viel stärker ist als man selbst.
Man hat aber auch gemerkt, dass es Zeit ist, erwachsen zu werden. Seine eigenen Wertvorstellungen zu artikulieren. Seine Standpunkte klar und deutlich zu vertreten – aber dennoch weiter an der Beziehung zueinander zu arbeiten. Möglicherweise eines Tages als Partner auf Augenhöhe.
Deutschland und die EU brauchen das auch. Sie brauchen eine klare Kante und sie können sich diese auch leisten. Mit Fingerspitzengefühl in diplomatischen Verhandlungen, aber stark in der Sache.