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Nach der Tötung des IS-Anführers: Es ist längst nicht genug getan

People check a destroyed house after an operation by the U.S. military in the Syrian village of Atmeh, in Idlib province, Syria, Thursday, February. 3, 2022. U.S. special forces carried out what the P ...
Ein zerstörtes Haus im syrischen Dorf Atmeh nach der US-Operation, in deren Verlauf der IS-Anführer Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi getötet wurde. Bild: imago images / Abdulaziz KETAZ
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Nach der Tötung des IS-Anführers: Es ist längst nicht genug getan

04.02.2022, 20:1306.02.2022, 13:34
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Islamistischer Terrorismus? Gehört nicht zu unseren größten Problemen. Das scheint zumindest ein erheblicher Teil der Menschen in Deutschland zu denken. Laut dem "Sicherheitsreport", einer Umfrage des Instituts Allensbach, fürchten sich die meisten Menschen hierzulande vor der Inflation, den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, dem Virus selbst, der unsicheren Weltlage. An die Gefahr von Attentaten mit dutzenden bis hunderten Toten, wie sie 2015 und 2017 Europa erschüttert haben – von Paris bis Istanbul, von Manchester bis Barcelona, von Ansbach bis Berlin – denken heute viel weniger Menschen.

Grundsätzlich ist das auch verdammt gut so: Dass die Furcht vor solchen Taten abnimmt, folgt daraus, dass seit den blutigsten islamistischen Anschlägen inzwischen ein halbes Jahrzehnt vergangen ist.

Weil weniger Menschen daran denken, verschwindet die Gefahr durch islamistischen Terror aber nicht. Und der Tod des Anführers der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi – der sich und seine Familie bei einer Operation des US-Militärs in der Nähe der nordsyrischen Stadt Idlib offenbar selbst in die Luft gesprengt hat – ist ein wichtiger Anlass, um wieder mehr darüber zu sprechen.

Um islamistischen Terror einzudämmen, muss sich auf drei Feldern etwas tun:

  • bei den deutschen Sicherheitsbehörden
  • im militärischen Kampf gegen Terroristen
  • bei der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen, die aus mehrheitlich muslimischen Ländern stammen.

Der deutsche Sicherheitsapparat muss im 21. Jahrhundert ankommen

Der tödlichste islamistische Anschlag der deutschen Geschichte war der auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz, im Dezember 2016. Die bitterste Wahrheit über diesen Anschlag mit 13 Toten ist, dass er hätte verhindert werden können – nicht einfach durch Glück, sondern durch Sicherheitsbehörden, die besser miteinander zusammengearbeitet hätten.

Der spätere Attentäter Anis Amri stand lange vor dem Anschlag unter der Beobachtung der deutschen Sicherheitsbehörden, er war so oft Thema bei Besprechungen des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ wie kaum ein anderer terroristischer Gefährder, er ging bei einer Berliner Moschee ein und aus, deren Eingang von der Polizei bewacht wurde. Es hätte lange vor dem Attentat gute Gründe gegeben, ihn abzuschieben. Trotzdem konnte Amri morden.

"Es ist unfassbar, dass der Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen, die aus der islamistischen Szene heraus Informationen beschaffen, kaum geregelt ist."

Damit solche Anschläge weniger wahrscheinlich werden, hat der deutsche Sicherheitsapparat eine Reform dringend nötig. Es ist absurd, dass ein winziges Bundesland wie Bremen ein eigenes Landesamt für Verfassungsschutz betreibt. Es ist unfassbar, dass der Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen, die aus der islamistischen Szene heraus Informationen beschaffen, kaum geregelt ist.

Es ist gruselig, dass beim Bundeskriminalamt Menschen mit islamistischem Terrorismus zu tun haben können, die das IS-Handbuch "How to Survive in the West" für einen Roman halten. Was helfen würde: weniger Verfassungsschutzämter, die dafür mit echten Experten besetzt sind. Mehr Kompetenzen beim Bund in der Terrorbekämpfung. Eine engere und verpflichtende Zusammenarbeit zwischen EU-Staaten bei der Überwachung von Gefährdern.

Ja, manchmal geht es nur mit militärischer Gewalt

Cem Özdemir, damals Vorsitzender der Grünen, hat es in der Hochphase des IS so auf den Punkt gebracht und seither ein paar Mal wiederholt: Terroristen bekämpft man nicht mit der Yogamatte unter dem Arm.

Er hat recht. Es war enorm wichtig, nach 2014, dem militärischen Siegeszug des IS und dem Völkermord an den Jesiden im Nordirak, die Dschihadisten militärisch zu bekämpfen. Seit sie kein eigenes Herrschaftsgebiet mehr haben, sind ihre Fähigkeiten geschrumpft, Attentate in Europa zu verüben. Es war richtig, den Kampf gegen den IS mit Waffenlieferungen an die Peschmerga im Irak und mit Luftangriffen zur Unterstützung der kurdischen YPG in Nordsyrien zu befeuern.

Es ist nachvollziehbar, dass die Bevölkerung in Deutschland erheblich größere Skrupel als jene in anderen Ländern hat, wenn es um den Einsatz militärischer Gewalt geht. Und es ist wahr, dass die Entstehung des IS selbst eine Folge falscher westlicher militärischer Gewalt war: der Invasion und Besetzung des Irak durch die USA und Partnerstaaten ab 2003. Aber es gibt Situationen, in denen es nicht anders geht, als mit Waffen. Der Kampf gegen den IS ist eine solche Situation.

Kaum etwas hassen Dschihadisten so sehr wie Chancengleichheit

Andererseits geht es nicht nur mit militärischer Gewalt. Es ist schon befremdlich, wie US-Präsident Joe Biden – in ähnlichen Worten wie seine Vorgänger – nach der Tötung von Terroristen sagt, die Welt sei "ein sicherer Ort geworden". Islamistische Terrorfürsten auszuschalten ist ein taktischer Erfolg, klar. Aber sicherer macht es die Welt nur dann, wenn der religiöse Fanatismus dieser Menschen nicht weiter auf fruchtbaren Boden trifft.

Fruchtbarer Boden für Fanatismus, das sind Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit. Und das sind leider die Bedingungen, unter denen im vom Bürgerkrieg zerfressenen Syrien, in Teilen des Irak, in Afghanistan, im Libanon oder im Jemen hunderttausende bis Millionen Menschen leben. Es ist für die Regierenden in Ländern wie Deutschland mühsam, langwierig und teuer, mit den Menschen vor Ort daran zu arbeiten, dass sich das ändert. Aber wenn sich nichts daran ändert, wird es für Europa noch viel teurer.

Es gibt auch in Deutschland, wie in anderen europäischen Ländern, fruchtbaren Boden für den Fanatismus der Dschihadisten. Seine Bestandteile sind die Ausgrenzung von Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern, relative Armut, Rassismus. Wem wenig liegt an dem Land, in dem er lebt, weil er oder sie sich nicht als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlt, dessen oder deren Ohren sind empfänglicher für pseudotheologische Parolen vom angeblichen heiligen Krieg gegen Nicht-Muslime.

Wenig hassen Dschihadisten – wie ihre geistigen Brüder und Schwestern, die Rechtsextremen – dagegen so sehr wie Chancengleichheit: Je offener Gesellschaften für Menschen mit Wurzeln in anderen Ländern sind, die sich in sie positiv einbringen wollen, desto stärker werden ihre Abwehrkräfte auch gegen islamistischen Terror.

Die gute Nachricht ist: In Deutschland hat es in den vergangenen Jahren sichtbare Fortschritte gegeben – trotz der schrillen Töne in manchen Debatten um Integration und Islam, trotz der rassistischen Pamphlete von Thilo Sarrazin, trotz des rassistischen Terrors am Olympia-Einkaufszentrum in München und in Hanau.

Im Bundestag, dem einzigen vom Volk gewählte Verfassungsorgan, sitzen so viele Menschen mit Wurzeln in mehrheitlich muslimischen Ländern wie nie zuvor. Die Familien des FDP-Generalsekretärs Bijan Djir-Sarai und des designierte Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour stammen aus Iran, die des Landwirtschaftsministers Cem Özdemir aus der Türkei, die der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Reem Alabali-Radovan aus dem Irak.

Diese Fortschritte muss diese Gesellschaft verteidigen. Indem Demokratinnen und Demokraten gemeinsam Rechtsradikalen entgegentreten, die Menschen nach ihrer Abstammung sortieren möchten. Aber auch, indem die Regierung nicht mehr zulässt, dass in Iran oder Saudi-Arabien ausgebildete Imame in deutschen Moscheen ihre fundamentalistische Lesart des Islam predigen.

Bessere Sicherheitsbehörden, wenn nötig militärische Entschlossenheit – und unablässiger politischer Kampf für eine offene Gesellschaft: Wenn wir in diesen Bereichen Fortschritte machen, dann gehört vielleicht auch in fünf Jahren noch islamistischer Terror nicht zu den Top-Ängsten der Menschen in Deutschland.

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