Nach zwei Jahren Pandemie steht Deutschland vor weitgehenden Lockerungen. In gut vier Wochen soll es so weit sein: Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerpräsidenten haben am Mittwoch einen Plan für schrittweise Öffnungen vereinbart – bis hin zu einem möglichen Ende aller einschneidenden Auflagen am 20. März, wenn die Situation in den Kliniken es zulässt. Danach soll nur noch eine Art "Basisschutz" gelten: mit Maskenpflichten in Innenräumen, Bussen und Bahnen sowie mit Tests. Dafür wird eine bundesweite Rechtsgrundlage angestrebt.
Ist das der richtige Schritt? Oder kommen die Lockerungen zu früh? Sebastian Heinrich und Rebecca Sawicki haben dazu eine unterschiedliche Meinung – und begründen ihren Standpunkt in diesem Pro und Contra.
Eines vorweg: Der erste Lockdown gegen das Coronavirus im Frühjahr 2020 war richtig, der zweite – quälend lange – im Winter 20/21 ebenfalls. In beiden Zeiträumen war ein übergroßer Anteil der Bevölkerung völlig ungeschützt gegen Sars-CoV2 und die von ihm ausgelöste Krankheit Covid-19. Hätte der Staat nicht einen erheblichen Teil der Bevölkerung geschützt – durch die Schließung von Clubs, Lokalen und Hotels, durch Reisebeschränkungen und das Verbot privater Treffen im großen Kreis –, wären in Deutschland wohl hunderttausende Menschen zusätzlich gestorben.
Zum Glück sind wir heute, im Spätwinter 2022, viel weiter. Drei von vier Menschen in Deutschland haben eine doppelte Impfung gegen das Virus bekommen, über die Hälfte ist geboostert. Die Impfungen – das kann man nicht oft genug betonen – wirken sensationell gut gegen Covid-19: Nach einer dritten Impfdosis ist das Risiko, zu erkranken, um über 90 Prozent niedriger als ohne Impfschutz. Dazu kommt: Fast 13 Millionen Menschen haben laut den offiziellen Zahlen eine Infektion mit dem Coronavirus hinter sich, ein Teil davon in Kombination mit einem Impfschutz. Und Impfung plus Infektion ergeben einen besonders guten Schutz.
Kurzum: Während im Winter 20/21 die Mehrheit der Bevölkerung kein Schutzschild gegen das Virus hatte, ist im Februar 2022 die Mehrheit mit einer robusten Rüstung ausgestattet. Es ist deshalb der richtige Zeitpunkt, die meisten Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus aufzuheben.
Nein, ein "Freedom Day", an dem wir Corona vergessen können, wird der 20. März nicht. Das Virus wird bleiben, es werden sich weiter Menschen anstecken. Es wird weitere Varianten des Coronavirus geben – aber bald auch Impfstoffe, die auf sie abgestimmt sind. Bei Omikron ist es ja schon bald so weit. Trotzdem wird ein kleiner Teil der Infizierten auch in den kommenden Monaten schwer erkranken und sterben – vor allem unter denjenigen, die sich gegen eine Impfung entschieden haben.
Es gibt auch die Menschen, die sich nicht gegen die Impfung entschieden haben – sondern die sich nicht impfen lassen können: Menschen mit einem geschwächten Immunsystem, an Krebs oder Multipler Sklerose Erkrankte, Menschen mit manchen chronischen Leiden. Diese Menschen sollten jetzt besonders im Fokus stehen. Um sie möglichst gut vor Corona zu schützen, braucht es möglichst bald eine Impfpflicht – wie bei den Masern.
Auch gegen die Masern haben sich zu viele Menschen in Deutschland nicht impfen lassen – aber kaum jemand käme auf die Idee, Masern-Lockdowns oder Masern-Reisebeschränkungen zu erlassen.
Ja, der Staat hat die Pflicht, Bürgerinnen und Bürger möglichst gut vor Gefahren für Leib und Leben zu schützen – und damit auch gegen ein potenziell tödliches Virus. Aber der Schutz des Lebens kann nie absolut sein, er muss abgewogen werden gegen die Freiheitsrechte, die jedem Menschen in Deutschland zustehen. Eine Impfpflicht gegen Corona ist ein nötiger Eingriff in die persönliche Freiheit, um die verletzlichsten Menschen in der Gesellschaft zu schützen. Eine Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen auch – zumindest für die kommenden Monate. Aber ist Zeit, im Gegenzug auf andere Einschränkungen zu verzichten.
Die Fallzahlen sinken, die Lage auf den Intensivstationen entspannt sich und der Ruf nach Lockerungen, nach Leben, nach Zusammensein wird laut.
Das Ende aller Maßnahmen, mit Ausnahme der Maskenpflicht: der 20. März. Frühlingsanfang.
So wie es der heutige Justizminister Marco Buschmann (FDP) bereits im vergangenen Oktober in der Bundespressekonferenz angekündigt hat. Die FDP fordert, die FDP liefert.
Hoffentlich haben die Entscheider in unserem Land dem Coronavirus Bescheid gegeben, dass es bitte ab dem 20. März nicht mehr mutieren soll. Nicht, dass es dieses Memo verpasst hat. Denn klar ist: Auch danach wird Corona Teil unseres Lebens sein.
Auch dann sollte weiterhin Vorsicht die Mutter der Porzellankiste sein. Denn was ist mit den vulnerablen Gruppen, wenn niemand mehr auf etwas achtet? Sie können nicht mehr am Leben teilnehmen, müssen sich selbst isolieren.
Genannt wird das dann eigenverantwortliches Handeln. Gemeint ist aber eigentlich unsolidarisches Handeln.
Und im Herbst blicken dann wieder alle gemeinsam auf die heranrollende Ypsilon- oder Omega-Welle. Möglicherweise ähnlich erschrocken wie vergangenen Herbst. Denn in der Leichtigkeit der Lockerung will sich doch keiner Gedanken darüber machen.
Erneut werden hunderte Menschen am Tag mit dem Virus sterben. Der nächste Corona-Jahrgang wird die digitalen Hörsäle stürmen. Unsere Kinder werden wieder alle paar Wochen der Schule fernbleiben müssen, weil die Durchseuchung einfach nicht so funktioniert, wie geplant.
Noch immer mit einem großen Anteil Ungeimpfter, noch immer mit zu wenig Pflegepersonal, noch immer mit einer unzureichenden Ausstattung an den Schulen.
Eine Dystopie.
Damit dieses triste Bild der Zukunft nicht zur Realität wird, müssen wir heute dagegensteuern.
Natürlich ist der Impuls, Maßnahmen zu lockern, nachvollziehbar. Er ist auch richtig. Aber bitteschön mit Bedacht und nicht nur schnell-schnell.
Lieber gestern als heute sollte bei den Lockerungen nicht die Devise sein. Stattdessen sollte sie lauten: Lieber dann, wenn die Fallzahlen es erlauben. Wenn sie niedrig bleiben. Wenn nicht mehr täglich hunderte Menschen sterben. Und wenn wir abgewartet haben, wie krass der Omikron-Subtyp BA.2 tatsächlich grassieren wird. Die Abwasserwerte in Berlin legen nahe, dass der Subtyp auf dem Vormarsch ist.
Natürlich ist es für erwachsene Politiker einfach, zu beschließen, dass nun jeder für sich selbst verantwortlich ist. Und auch die Aufhebung der Test- und Maskenpflicht im Unterricht – wie es beispielsweise in Niedersachsen geplant ist – klingt für Menschen, die nicht tagtäglich Zeit mit einer Horde Heranwachsender in einem Raum verbringen, verführerisch. Für Kinder, die Tag für Tag mit Stäbchen in der Nase im Klassenraum sitzen und darauf warten, welcher Test heute positiv ist, fühlt sich die aktuelle Situation nicht so locker an.
Nicht grundlos wird gerade über einen Schülerstreik gesprochen. Nicht umsonst gibt es die Kampagne #Wirwerdenlaut. Die Schülerinnen und Schüler müssen seit zwei Jahren Lockdowns und Einschränkungen erdulden. Sie müssen am Präsenzunterricht teilnehmen, weil die Kultusminister der Länder noch immer nicht dafür gesorgt haben, dass ordentlicher Distanzunterricht als Möglichkeit gegeben werden kann. Sie müssen sich durchseuchen lassen und sich selbst und ihre Familien Tag für Tag der Gefahr einer Infektion aussetzen.
Klar, bei jungen Menschen verlaufen die meisten Infektionen mild. Aber ist das ein gutes Argument? "Hey Schüler, die Wahrscheinlichkeit, dass du schwer erkrankst ist gering. Uns doch egal, ob du Long Covid bekommst. Wichtig ist doch, dass alle wieder shoppen gehen können" – was sie streng genommen auch jetzt schon könnten, wären sie geimpft.
Als wäre es nicht gesellschaftliches Versagen genug, dass Kinder und Jugendliche in den vergangenen beiden Jahren in Depressionen und Lernrückstände getrieben wurden.
In dieser Situation konkrete Daten für einzelne Schritte zu nennen, ist nahezu grotesk. Wie soll sich ein mutierendes Virus an unseren kalendarischen Frühlingsanfang halten, wenn nicht einmal der Frühling selbst es tut? Oft genug lag an Ostern Schnee.
Die lange erwarteten Lockerungen sollten mit einer Impfpflicht einhergehen – anders kann kein "Freedom Day" ausgerufen werden.
Denn, was die vergangenen Monate gezeigt haben: Die Solidarität ist ausgeschöpft. Ohne die Verpflichtung werden sich jene, die Woche für Woche durch die Straßen jagen und von Diktatur schwadronieren, nicht impfen lassen.
In Dänemark ging der "Freedom Day" Inzidenz-technisch nach hinten los: Die Ansteckungen sind in die Höhe geschossen. Zu viel Personal aus Kindergärten, Schulen oder Pflegeheimen sitzt in Quarantäne. Kitas mussten bereits geschlossen werden. Mit der deutschen Impflücke ist das auch hier nicht unwahrscheinlich – wobei auch zur Wahrheit gehört, dass die Dänen die Masken haben fallen lassen. Das ist hier nur an den Schulen geplant. Anstecken können sich die Menschen aber auch im Restaurant, in der Bar oder im Schwimmbad – und da werden trotz Pflicht keine Masken getragen.
Die Aufgabe der Politik ist nun also, trotz Lockerungen klarzumachen, dass das Virus eine krasse Gefahr bleibt. Die Entscheider müssen der Bevölkerung erklären, dass Umsicht auch bei Lockerungen geboten ist – viele wird das nicht interessieren, wenn man sich anschaut, wie oft die Maske trotz Verpflichtung überall getragen wird, nur nicht auf der Nase.
Die Sommermonate müssen genutzt werden, diesmal wirklich vorbereitet zu sein.
Nach zwei Jahren Pandemie reicht es nicht mehr, von zwölf bis Mittag zu denken. Statt einer schnellen Lockerung brauchen wir eine längerfristige Perspektive. Wir brauchen einen Plan, der uns dem Ziel näherbringt: die Überwindung des Ausnahmezustands, das Ende der Corona-Pandemie.