Der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie fordert eine 42-Stunden-Woche, um dem Fachkräftemangel vorzubeugen.bild: IMAGO / Wavebreak Media Ltd
Meinung
21.06.2022, 16:1021.06.2022, 16:34
Mehr malochen gegen den Fachkräftemangel.
Die Forderung des Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, ist ein schlechter Witz. Er ist nicht der Erste, der diese Idee äußert: Anfang des Monats hatte sich auch schon der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, dahingehend geäußert. Und beide haben offensichtlich nicht verstanden, dass die Generationen, die nach den Babyboomern kommen, eben andere Bedürfnisse haben.
Für die Einführung des Acht-Stunden-Tages brauchte es 1919 die Angst der Industriellen vor einer Revolution. Vor Bolschewismus. Vor Anarchie. Vor dem Volk. Diese Verbesserung für die Lebensqualität der Lohnarbeitenden und Angestellten ist mehr als 100 Jahre her – und jetzt will der Chef der Industriellen sie demontieren? Wäre es nicht eher Zeit, in Anbetracht von Digitalisierung und technischer Revolution, die Lohnarbeitszeit weiter zu verringern?
"Der Job ist da, um das Leben zu finanzieren. Um das PRIVATLEBEN zu finanzieren."
Andere Länder, andere Sitten, auch beim Umgang mit den Arbeitnehmenden. Die Vier-Tage-Woche wird in Belgien bald Realität sein: Klar, auch hier müssen die Arbeitenden noch ihre 40 Stunden in der Woche ableisten, können das aber eben an vier Tagen in der Woche tun. Mehr Zeit zum Regenerieren.
Auch ohne die regulär erhöhte Arbeitszeit arbeiten die Deutschen viel zu viel. Im Jahr 2021 haben die Arbeitenden hierzulande circa 1,7 Milliarden Überstunden abgeleistet. Das ist zu viel. Eindeutig. Aufgefangen wird diese Mehrarbeit auch nicht durch eine zwei Stunden längere Arbeitswoche, sondern nur durch weniger Arbeitsbelastung. Gegen ein absurd hohes Überstundenkonto hilft eben am besten mehr Personal.
Das Stichwort heute: Work-Life-Balance. Und zwar nicht in der Start-Up-Auslegung á la "Flache Hierarchien, Obstkorb, Playstation, Vertrauensarbeitszeit" sondern ernstgemeint. Der Job ist da, um das Leben zu finanzieren. Um das PRIVATLEBEN zu finanzieren.
Laut einer weltweiten Umfrage der Personalvermittlung Randstad (Workmonitor 2022) würden junge Menschen eher ihren Job kündigen, als unglücklich zu sein. Unglücklich meint nicht, unzufrieden mit dem Job zu sein, sondern dass der Job sie daran hindert, ihr Privatleben zu genießen.
Lieber Radtour als Bürostuhl – gerade junge Menschen ziehen ein erfülltes Privatleben dem Job vor.Bild: www.imago-images.de / imago images
Dieses veränderte Verhältnis zur Arbeit unterschätzt der BDI-Chef eindeutig. Natürlich, gerade haben die wenigsten vor, das Kapital zu stürzen. Die FDP, die parteigewordene Marktwirtschaft, ist eine der beliebtesten Parteien bei Jung- und Erstwählenden. Die Revolution fällt aus.
Trotzdem geht ein anderer Teil der jungen Generation Woche für Woche auf die Straße. Für die Zukunft. Für die Erde. Für das Klima. Was Industrie und Wirtschaft nämlich nicht verstehen: "Schaffe, schaffe Häusle baue" ist für viele nicht mehr das Nonplusultra. Junge Menschen wollen jetzt leben und nicht auf die Zeit nach der Rente warten, die im Laufe ihres Erwerbslebens immer weiter nach hinten geschoben werden könnte.
Eine Rente, die kaum zum Leben reichen wird. Und das ist nicht das einzige Problem, das frühere Generationen den Jungen hinterlassen: Schuldenberge, ein kaputtgespartes Gesundheitssystem, Armut und die Klimakrise – das sind nur einige Beispiele.
Dankeschön.
"Die Arbeitgeber müssen verstehen, dass sie es sind, die etwas verändern müssen. Dass sie sich verbessern müssen."
Um einem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, hilft es also nicht, die Arbeitsbedingungen für jene, die schon da sind, weiter zu verschlechtern. Der Industrie – aber auch allen anderen Branchen mit Nachwuchsproblemen – muss eindeutig etwas Besseres einfallen. Wie wäre es zum Beispiel mit weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich? Mit einer ordentlichen Altersvorsorge? Mit Entlastungen statt Mehrbelastungen?
Die Arbeitgeber müssen verstehen, dass sie es sind, die etwas verändern müssen. Dass sie sich verbessern müssen. Dass sie sich um den Nachwuchs bewerben müssen. Ihn umgarnen müssen. Nur dann können sie das Problem Fachkräftemangel nachhaltig lösen. Denn die junge Generation hat es satt, Fehler auszubügeln. Sie hat es satt, dafür zu zahlen.
Mehr als zweieinhalb Jahre nach Wladimir Putins Ankündigung, Kiew innerhalb weniger Tage einzunehmen, setzt sich das Töten, Sterben und Verwunden an der ukrainischen Front ungebremst fort. Den gefährlichen Kampfeinsatz versüßt der russische Machthaber seinen Soldaten mit stetig steigenden Solden.