Merz-CDU tritt gegen wehleidige Deutsche: Faktisch falsch, moralisch erbärmlich
Kanzler Friedrich Merz und CDU-Gesundheitspolitiker Hendrik Streeck sind offenbar auf einer Mission. Das deutsche Gesundheitssystem ist unterfinanziert – und sparen will die CDU vor allem bei den Kranken der Gesellschaft. Innerhalb kurzer Zeit hauten Merz und Streeck polemische Aussagen gegen ihrer Ansicht nach deutsche Weicheier raus, die zu häufig zum Arzt gehen – und gleichzeitig zu häufig in die Notaufnahme.
Wollen die Christdemokraten also, dass wir einfach zu Hause bleiben, wenn wir krank sind? Nein, natürlich nicht. Wir sollen einfach seltener krank sein – oder besser: uns einfach seltener krankmelden.
Denn bereits im Bundestagswahlkampf kamen aus der Wirtschaft Forderungen nach einer Einschränkung der Lohnfortzahlungen in den ersten Tagen der Krankmeldung – unterstützt von Politiker:innen der CDU. Geht's noch?
Merz und Streeck hetzen gegen kranke Deutsche
Merz beschwerte sich seinerseits bei einer Veranstaltung am Dienstag, "eine Milliarde Arztbesuche in Deutschland pro Jahr (...) seien ein zweifelhafter europäischer Rekord". Und die durchschnittlich zehn Arztbesuche pro Kopf und Jahr in Deutschland, fuhr Merz fort, würden ebenfalls einen "einsamen europäischen Rekord" darstellen.
Es brauche demnach insgesamt "bessere Anreize" in den sozialen Sicherungssystemen wie Krankenversicherung, Rentenversicherung oder Arbeitslosengeld, "mit den Ressourcen, die wir haben, sparsamer umzugehen". Sprich: Um Leute vom Arztbesuch abzuhalten. Doch das reicht anscheinend noch nicht.
Auftritt Hendrik Streeck, bekannt als "Kein Grund zur Panik"-Experte in der Coronapandemie. Er sprach gegenüber der "Rheinischen Post" von einer "unsolidarischen Vollkasko-Mentalität" der Deutschen in Bezug auf das Gesundheitssystem.
Gesundheit sei "keine All-inclusive-Dienstleistung des Staates. Wer mit einer Erkältung die Notaufnahme blockiert, darf nicht erwarten, sofort die gesamte Palette an Hightech-Diagnostik zu beanspruchen."
Merz-Aussage ist faktisch falsch: kein Rekord für Deutschland
Merz und Streeck schlagen mit ihren Aussagen in ein und dieselbe Kerbe: Den Faulen und Kranken, den Verweichlichten und Jammernden in unserer Gesellschaft geht es zu gut, die machen "All Inclusive" im Wartezimmer oder gar zu Hause auf der Couch, während wir Macher uns hier von morgens bis abends abrackern.
Bei so offensichtlicher Hetze gegen die Kranken und Schwachen in unserer Gesellschaft fehlen einem mittlerweile die Worte. Das Narrativ von den Deutschen, denen es im internationalen Vergleich rekordverdächtig viel zu gut geht – ein Klassiker der christdemokratischen Argumentations-Trickkiste.
Dazu kommt die "Hightech-Diagnostik" als Luxusgut der Kranken und Verletzten. Auch die "Vollkasko-Mentalität" und "All Inclusive" sind altbekannte Buzzwords, die kann man immer mal reinwerfen – vor allem, wenn die sachlichen Argumente hinken.
Denn der "einsame Rekord", den fantasiert Merz herbei. Gleich mehrere Länder in Europa liegen entweder mit Deutschland gleichauf oder haben gar mehr Arztbesuche pro Kopf und Jahr.
Laut OECD-Zahlen (nachzulesen im Report "Health at a Glance") hatten 2022 sowohl Ungarn (10,8) als auch Litauen (10,3) mehr Arztbesuche pro Einwohner:in als Deutschland (9,8). Der "Zeit" zufolge zeigen Eurostat-Zahlen, dass 2023 sogar obendrein Österreich, Slowakei, Ungarn und die Niederlande in der Statistik vor Deutschland liegen, und Litauen und Liechtenstein gleichauf.
Merz' hantiert somit mit falschen Fakten, um sein beliebtes unsoziales Narrativ zu untermauern.
Studien belegen: Armut macht krank
Es bleibt fraglich, wie Merz' und Streecks Forderungen miteinander vereinbar sind: Der ehemalige Corona-Experte will, dass weniger Menschen in die Notaufnahme gehen. Mit dieser Forderung spricht er vielen Ärzt:innen und anderen Gesundheitsexpert:innen aus der Seele.
Allein: Im Ergebnis würde das bedeuten, dass mehr Menschen mit ihren Problemen zu den Hausärzt:innen gehen – und die von Merz gescholtene Anzahl an Arztbesuchen würde weiter ansteigen, nicht sinken.
In der Logik bleibt nur ein einziger Schluss: Weniger Menschen sollen zur Notaufnahme, weniger zu den Ärzt:innen, weniger sollen sich generell krankmelden. Wirtschaftsverbände forderten zuletzt sogar vermehrt, einen oder mehrere sogenannte Karenztage einzuführen. Im Fall einer Erkrankung eines Arbeitnehmers würde dann in den ersten Tagen kein Lohn fortgezahlt.
Als ob die Menschen in Deutschland aus Spaß zum Arzt gehen.
Kaum tritt man ins Wartezimmer ein, ist man von hustenden, schniefenden Menschen umringt, eingehüllt in ein auditives Wirrwarr aus Naseschnäuzen, Telefon-Klingeltönen aus den Neunzigern und hysterischen Stimmen, die angesichts überfüllter Praxen nahe dem Burnout sind.
Mit einem haben Streeck und Merz nämlich recht: Die Arztpraxen sind überfüllt. Doch die Lösung ist sicher nicht, den kranken Menschen dafür die Schuld zuzuschieben. Ihnen immer mehr Kosten aufzubürden, zeigt, wie schon ein Blick auf die Website des RKI verrät, was schon lange statistisch belegt ist: Armut macht krank.
Den Menschen in diesem argumentativen Wirrwarr dann auch noch fehlende Solidarität vorzuwerfen, ist einfach nur erbärmlich.