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Sozialabbau unter Merz: Diese Reformen gefährden uns alle

15.10.2022, Berlin: Ein Kind hält bei der Kundgebung der Initiative #ichbinarmutsbetroffen am Bundeskanzleramt ein Plakat mit der Aufschrift «Wir brauchen gesundes Essen! Armut abschaffen!». #IchBinAr ...
In Deutschland ist jedes siebte Kind armutsgefährdet.Bild: dpa / Paul Zinken
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Bundesregierung: Nach der "Sommer-Depression" folgt die eigentliche Gefahr

Die Koalition wollte nach ihrer "Sommer-Depression" in einen "Herbst der Kraft" übergehen, wie Markus Söder (CSU) es nannte. Doch was darauf folgen könnte, ist vor allem ein Winter voller Sorgen.
04.09.2025, 16:3004.09.2025, 16:30
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Ich erinnere mich noch genau an diesen einen Sommernachmittag in meiner Kindheit. Nach einem gefühlt endlosen Schultag kam ich zu spät nach Hause – der Bus war mal wieder ausgefallen, mein Schulweg dauerte also statt einer Stunde gleich drei.

Zu Hause fand ich meine Mutter weinend vor. Nicht, weil ich zu spät war – auch wenn der Zustand des deutschen ÖPNV schon damals Grund genug gewesen wäre, Tränen zu vergießen. Sondern, weil unsere Waschmaschine kaputtgegangen war.

Als Kind habe ich lange nicht verstanden, warum so ein Haushaltsgerät meine Mutter derart aus der Fassung bringen konnte. Für mich war es "nur" eine Maschine, die sich nicht mehr drehte.

Erst viele Jahre später habe ich begriffen: Sie trauerte nicht um das Gerät. Es ging viel eher darum, dass meine Mutter kein Geld hatte, eine neue Waschmaschine zu kaufen. Nicht, weil sie versagt hatte. Nicht, weil wir Kinder zu viel Wäsche dreckig machten. Sondern, weil der Sozialstaat nach den Reformen der Agenda 2010 Familien wie unsere im Stich ließ. Die kaputte Maschine wurde zum Symbol für einen kaputten Sozialstaat.

Und jetzt, viele Jahre später, stehen sie da: Merz, Bas, Söder, Klingbeil. Im Spätsommer sprechen sie über den Sozialstaat, von notwendigen "Reformen" und höherer "Effizienz". Mit meiner über die Waschmaschine weinende Mutter im Kopf höre ich zu, wie dieses Quartett den nächsten Schleudergang für den Sozialstaat verkündet.

Koalition aus Union und SPD: Polit-Show statt Substanz

Eigentlich wollte die Regierungskoalition an diesem Abend Sicherheit schaffen. Es ging darum, nach wochenlangen Streits wieder Einigkeit zu inszenieren. Denn die schwarz-rote Koalition ist noch unbeliebter als die Ampel-Regierung, sogar unbeliebter als Trumps US-Regierung.

Das liegt fairerweise auch an der gesamtgesellschaftlich miserablen Situation. Aber eben diese könnte eine Regierung verbessern, wenn sie nur wollen würde. Wer Armut verwaltet, statt sie zu bekämpfen, verliert jede Glaubwürdigkeit.

Berlin, Pressekonferenz zu den Ergebnissen der Beratungen des Koalitionsausschusses im Bundeskanzleramt Bundeskanzler Friedrich Merz CDU, Vizekanzler Lars Klingbeil SPD, Markus S
Söder, Merz, Bas, Klingbeil (v.l.n.r.): Das Führungsquartett der Bundesregierung.Bild: IMAGO images / Christian Spicker

Aber darum, etwas wirklich Neues zu verkünden, geht es bei der Pressekonferenz überhaupt nicht. Viel eher ist das Zeichen nach außen wichtig: Man witzelt miteinander, der Bundeskanzler duzt nun die Sozis und erzählt flapsig vom Bierchen-Trinken mit Bas.

Nach den öffentlichen Streits der letzten Wochen – vor allem zwischen Merz und Bas – wirkt die Pressekonferenz sicher versöhnlich. Doch eine versöhnte Bundesregierung wird niemals so beliebt sein, wie eine, die die Lebensgrundlagen der Menschen dauerhaft verbessert.

Gerade dieser Auftakt zum selbst erkorenen "Herbst der Reformen" ist eigentlich entscheidend für die Merz-Regierung. Nicht etwa, um an alte Muster der letzten Großen Koalition anzuknüpfen, sondern um sich krampfhaft davon zu distanzieren. In dem Bemühen, bloß nicht wie die verschlafene GroKo zu wirken, verrennt sich die schwarz-rote Regierung. Schließlich produziert sie mehr Theater als Substanz.

Wem möchte die Bundesregierung hier also was vorgaukeln?

In dem ganzen Theater ist es eine andere Regierung, an die diese Pressekonferenz erinnert: das Kabinett von Schröder II, welches 2003 die berüchtigte Agenda 2010 verabschiedete.

Wenig überraschend verteidigte Finanzminister Lars Klingbeil erst kürzlich in der "Zeit" den umstrittenen SPD-Altkanzler mit den Worten: "Schröder hat mutige Reformen angepackt." Das Kompliment scheint Schröder nur zu gern zurückzugeben, zu den Reformplänen Klingbeils sagte Schröder der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Ich finde das mutig von Lars Klingbeil".

In Wahrheit handelte es sich bei den "mutigen" Reformen Schröders um Kürzungen, Druck und Sanktionen. Das bedeutete nichts anderes, als dass nicht das System sich den Menschen anpasste, die aus ihm herausgefallen waren – sondern die Menschen mit aller Gewalt zurück in ein starres System gepresst wurden. Nicht gerade mutig.

11.07.2025, Berlin: Lars Klingbeil (SPD), Bundesminister der Finanzen, Vizekanzler und SPD-Bundesvorsitzender, und Bärbel Bas (SPD), Bundesministerin für Arbeit und Soziales und SPD-Parteivorsitzende, ...
Lars Klingbeil (m.) und Bärbel Bas (r.) führen die SPD.Bild: dpa / Kay Nietfeld

Heute hört man dieselben Floskeln wieder: "Fördern und Fordern" sollte nun in einer neuen Grundsicherung geschehen, man könne sich den jetzigen Sozialstaat schließlich nicht mehr "leisten". "Wir leben über unsere Verhältnisse", hatte Bundeskanzler Merz, ein Millionär, im Sommer erklärt. Wenn Millionäre vom Gürtel-enger-Schnallen reden, meinen sie immer die Gürtel der anderen.

Na, zum Glück regiert Merz nicht alleine. Doch auch die SPD – immerhin eine frühere Arbeiter:innenpartei – gibt dem Kurs kein Kontra. "Man muss mich jetzt hier nicht zum Jagen tragen", erklärte Bas bei der Pressekonferenz. Man setze jetzt aber die Priorität auf die Wirtschaftsstabilität. Man werde jetzt "relativ schnell" über alle staatlichen Leistungen gehen und "zusammenschnüren" und "effektiv gestalten". Begriffe, die vage und uninteressant, ja bürokratisch wirken, dabei verschleiern sie die eigentliche, unpopuläre Agenda.

Der ehrlichste Moment des Abends kommt ausgerechnet vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der eigentlich für seine großspurigen Aussagen bekannt ist. Er gesteht: "Es wird ein paar Entscheidungen geben, die auch schmerzhaft werden".

Wenn Merz also erklärt, man wolle den Sozialstaat "erhalten", dann ist die Botschaft klar: Es geht ums Sparen. Und wo spart man am einfachsten? Bei den Ärmsten in der Bevölkerung. Die können sich nämlich am wenigsten wehren.

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Ich kann nicht anders, als nach dieser Pressekonferenz an meine Mutter zu denken. In dem Moment, als die Waschmaschine damals kaputtging, hatte sie kein Vertrauen darin, dass das System sie auffangen würde. Verständlich, nach dem Prinzip "Fördern und Fordern" hätte sie mehr arbeiten müssen, ungeachtet ihrer unbezahlten Care-Arbeit.

Ich denke auch an viele Freund:innen, die im Hier und Jetzt auf soziale Leistungen angewiesen sind. Sei es das Bürgergeld, weil sie in ihren letzten Jobs bis ins Burn-out ausgebeutet wurden – oder das ewige Erniedrigt werden durch das BAföG-Amt, das darüber entscheidet, ob sie es sich noch leisten können, weiterzustudieren.

Wird der Sozialstaat also zurückgebaut – Entschuldigung, "reformiert" natürlich, wie Politiker:innen es nennen – bangen all diese Personen weiterhin um ihre Zukunft.

Und genau diese Abstiegs- und Benachteiligungsängste sind erwiesenermaßen der Nährboden für verfassungsfeindliche, faschistische Ideologien. Klar, wenn das System einen eben immer und immer wieder im Stich lässt, wendet man sich gegen eben dieses. Wer am Sozialstaat sägt, schärft dadurch automatisch die Klingen der Rechtsextremen.

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