Gerade hatte Marina noch Aktien russischer Unternehmen gekauft. Ein bevorstehender Krieg? Nachrichten darüber waren für die 31-Jährige wirtschaftlich gesehen erst einmal unbedeutend. Zumindest dachte sie das.
Dann fielen die Kurse.
Marina war sich sicher, dass es sich um ein politisches Spiel handelte, dass sich die Lage in einigen Wochen bessern, die Aktienkurse wieder steigen würden. Am 23. Februar wurde die Personalleiterin eines Start-ups aber nervös: Die beiden Gründer – ein Ukrainer und ein Belarusse – begannen, die Ausreise aller Mitarbeitenden zu veranlassen.
Am 24. Februar begann der Krieg. Am 25. Februar war Marina bereits in Istanbul. "Ich dachte, es wäre ein Blitzkrieg, dass ich in ein oder zwei Wochen wieder zu Hause sein würde", sagt sie.
Seither unterstützt Marina die Angestellten beim Umzug ins Ausland. 16 Stunden am Tag arbeitet sie dafür. 50 von 80 Mitarbeitende hat sie bereits aus Russland rausgeholt, sagt sie.
Und sie half auch ihren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen. In einem Chat sei alle zwei Stunden nachgefragt worden: Sind alle am Leben? "Wenn jemand nicht antwortete, wurden wir nervös", erzählt sie.
Und fährt fort: "Dann tauchte die Person auf und erklärte, sie sei in einem Luftschutzkeller gewesen. Andere scherzten: 'Ihr habt Glück, ihr habt einen Luftschutzkeller, wir nicht.' Oder sie posteten Bilder von ihren zerbombten Häusern. Dann kündigte eine ukrainische Kollegin. Sie sagte, sie wolle weg, um sich an die guten Zeiten zu erinnern – bevor sie anfing, den ganzen russischen Teil des Teams zu hassen. Es war schmerzhaft, aber ehrlich."
Es fällt Marina schwer, über ihre Gefühle zu sprechen. Seit Beginn des Krieges glaubt sie emotional blockiert zu sein. "Die ukrainischen Kolleg:innen werden bombardiert, und man hat das Gefühl, dass man kein Recht hat, sich über eigene Gefühle Sorgen zu machen. Einmal ging ich zu einer Sitzung bei meiner Psychologin, weinte von Anfang bis Ende, gab das Geld und ging – ich versprach mir danach, dass ich das nächste Mal kostenlos weinen würde."
Anfangs schämte sich Marina, über ihre Herkunft zu sprechen: "Ich sagte, ich komme aus Rumänien, Polen – oder ich tat so, als würde ich die Frage nicht verstehen. Aber irgendwann beschloss ich, dass ich nicht mehr lügen würde – und ich erhielt eine riesige Flut von Wärme, Unterstützung und Sympathie."
Moskau ist Marinas Lieblingsstadt: "Bis man die Nachrichten öffnet", erklärt sie. Sie wollte nicht weggehen, aber sie spürte, dass sich die Atmosphäre in den letzten Jahren aufgeheizt hatte, und bereitete sich auf eine neue Heimat vor. Die Vergiftung des russischen Agenten Skripal hat sie besonders erschreckt, und so begann sie, Unterlagen für die Beantragung der israelischen Staatsbürgerschaft vorzubereiten.
Marina hat schon seit mehreren Jahren nicht mehr mit ihren Eltern über Politik gesprochen – Mutter und Vater sind für Putin und für den Krieg. Sie nimmt ihnen das nicht übel: "Sie sprechen keine anderen Sprachen, sie sehen nur russische Nachrichten – es ist ganz logisch, dass das ihre Position ist. Ich habe den Eindruck, dass in Russland mehrere Generationswechsel stattfinden müssen, um den Autoritarismus zu beenden."
Marina sagt, dass sie keine Schuldgefühle hat. "Ich bin gegen diesen Krieg und versuche, denen zu helfen, die jetzt darunter leiden. Ich kann aber auch nicht sagen, dass ich irgendetwas getan habe, um es zu verhindern. Ich interessierte mich nicht für Politik, sondern für andere Themen: die Führungsrolle von Frauen, psychische Gesundheit. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der ich die Möglichkeit habe, zu leben und mich mit anderen Fragen zu befassen, nicht damit, wie man den Krieg beenden kann."