Politik
Nah dran

US-Amerikaner aus Georgia: "Heilige Scheiße, das passiert hier gerade wirklich!"

November 4, 2020, Washington Dc, USA: NEW Protest in front of White House. Nov 4, 2020. Lafayette Park, Washington DC, USA: From their encampment adjacent to unscalable White House barriers, America s ...
Junge Demonstranten, die sich dafür einsetzen, dass die Auszählung der Stimmen nicht aufgehalten wird.Bild: www.imago-images.de / Julia Mineeva
Nah dran

US-Amerikaner aus Georgia: "Heilige Scheiße, das passiert hier gerade wirklich!"

06.11.2020, 12:4006.11.2020, 15:42
Mehr «Politik»
nathan c.

Nathan C., 28, lebt in einem Vorort von Atlanta, Georgia – einem Swing State, der während der US-Wahl nun mit zum entscheidenden Faktor werden könnte. Momentan liegt Joe Biden mit knapper Mehrheit vor dem amtierenden Präsidenten Donald Trump, nur noch wenige Stimmen müssen ausgezählt werden, bis das finale Ergebnis feststeht.

Dass Georgia an die Demokraten gehen würde, hat Nathan zwar gehofft – aber nicht erwartet. Gegenüber watson beschreibt er die aktuelle Stimmung und spricht über die Konsequenzen der Wahl in seinem Heimatstaat.

"Mein Herz rast, ich bin den Tränen nahe, aber viel zu müde, um jetzt zu weinen."

Es ist schon halb fünf Uhr morgens hier Georgia, als es plötzlich heißt: Joe Biden, der Kandidat der Demokraten, hat Donald Trump überholt. Es sind nur noch wenige Stimmen, die ausgezählt werden müssen, das finale Ergebnis könnte jeden Moment kommen. Das würde bedeuten, dass 16 weitere Wahlmännerstimmen an Biden gehen würden – ich bin mir sicher, dass er damit als Sieger dieser Wahl hervorgehen wird. Mein Herz rast, ich bin den Tränen nahe, aber viel zu müde, um jetzt zu weinen.

Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Wahl in Georgia entscheiden könnte. Bisher war der Staat konservativ regiert, obwohl auch viele Demokraten hier leben. Vor allem Savannah, wo ich bis vor Kurzem gelebt habe – eine der ältesten Städte des Landes übrigens – ist sehr liberal und hat eine große LGTBQ-Community. Nun sieht es so aus, als würden sich die Demokraten durchsetzen – das ist eine Überraschung, auf die viele hier gehofft haben, aber mit der niemand so richtig gerechnet hatte. Seit Dienstagabend denke ich: "Heilige Scheiße, das passiert hier gerade wirklich!"

Georgia könnte die US-Wahl nun entscheiden

In den vergangenen Tagen haben fast alle hier in Georgia, die ich kenne, regelrecht an ihren Fernsehern geklebt, Twitter, Facebook und Instagram verfolgt, diskutiert... ich glaube, keiner hat hier wirklich viel geschlafen.

Wenn ich mir die vorläufigen Ergebnisse der anderen Staaten anschaue, steht einem Sieg Bidens eigentlich nichts mehr im Weg. In Nevada liegt er vorne, in Pennsylvania holt er gerade kräftig auf, Arizona steht momentan noch auf der Kippe, könnte allerdings auch noch an Biden gehen... egal in welchem dieser Staaten er gewinnt, wären das gemeinsam mit Georgia genügend Wahlmännerstimmen für die Demokraten.

"Senator Mitch McConnell ist eigentlich der wahre Bösewicht der US-amerikanischen Politik."

Über einen Präsidenten Biden wäre ich extrem glücklich. Noch besser wäre es allerdings, wenn auch im Senat mehr Demokraten vertreten wären. Vor allem der erzkonservative Senator Mitch McConnell hat in den vergangenen Jahren extrem viel Schaden angerichtet: Als Majority Leader, also Mehrheitsführer, konnte er schon unter Barack Obama extrem viele Gesetze verhindern, war der Oppositionsführer gegen Obamacare, steht für weniger strenge Waffengesetzen und agiert gegen sämtliche Klimaschutzgesetze. Er ist eigentlich der wahre Bösewicht der US-amerikanischen Politik.

Mit dem stärkeren Einfluss der Demokraten in Georgia könnte sich das allerdings ändern: Im Januar wählt unser Bundesstaat neue Senatsmitglieder. Die Chancen sind groß, dass es dieses Mal Demokraten werden könnten. Das würde die republikanische Mehrheit im Senat zumindest schmälern – ob das wirklich eine große Auswirkung haben wird, können wir jetzt allerdings noch nicht abschätzen.

Ich bin mir sicher: Es wird zu Ausschreitungen kommen

Egal, wie die Wahl nun allerdings ausgeht: Ich bin mir sicher, dass es zu extremen Spannungen in manchen Regionen des Landes kommen wird. Wer Trump blind unterstützt und seine Behauptungen teilt, die Wahl wäre gefälscht worden und Biden hätte den Sieg gestohlen, wird sicherlich auf die Straße gehen und Krawall machen. Denn das ist es, was viele dieser Wähler motiviert: die Wut, der Hass gegen Angehörige von Minderheiten, gegen People of Color, gegen Einwanderer oder einfach gegen Liberale.

"Menschen, die nur von ihrer Wut getrieben werden, lassen sich nicht zur Vernunft bringen."

Auf Twitter habe ich bereits gesehen, dass Black-Lives-Matter-Aktivisten in Texas Menschen warnen, die an ihren Häusern Pro-Biden-Schilder angebracht haben: "Nehmt sie runter, wenn Trump verliert. Das ist kein Spaß." Das ist extrem beunruhigend. So oder so, die Stimmung ist aufgrund der vergangenen Jahre sehr aufgeladen: Würde Trump nun gewinnen, würden sich seine Unterstützer bestärkt fühlen, ihre rassistischen Parolen weiterzuverbreiten. Dass er voraussichtlich verliert, wird ihren Hass allerdings nicht einfach verpuffen lassen – er wird sogar möglicherweise noch verstärkt werden. Menschen, die nur von ihrer Wut getrieben werden, lassen sich nicht zur Vernunft bringen.

Biden ist nicht die Lösung, aber ein Anfang

Eine Wut, die allerdings etwas gebracht hat, war die der Minderheiten, von Black Lives Matter, die Wut der jungen Menschen: Ihr Ärger hat sie dazu motiviert, sich gegen Trump zu vereinen und dieses Jahr ihre Stimme abzugeben. Die US-Wahl 2020 gehört den Minderheiten und jungen Menschen in Amerika. Das zeigt auch das bisherige Wahlergebnis in Georgia, so knapp es auch sein mag.

Ein Präsident Biden ist vielleicht nicht die Lösung, aber ein notwendiger Anfang. Viele Menschen in den USA haben den Glauben an die Politik und demokratische Werte verloren. Bidens Hauptaufgabe wird es sein, ihnen dieses Vertrauen zurückzugeben.

Protokoll: Agatha Kremplewski

Dauer-Streit über Abtreibungen: Warum dieses Thema die US-Wahl entscheiden könnte

Das Thema Abtreibung hat noch nie eine so große Rolle im US-Wahlkampf gespielt, wie dieses Mal. Denn vor zwei Jahren kippte der oberste Gerichtshof in Washington das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche.

Zur Story