Abdulhafiz Maimaitimin lebt seit einem Jahr in der Schweiz. In China wurde das Leben für ihn als Uigure immer schwieriger.Bild: watson.ch
Nah dran
Bei einem Brand in einem Wohnhaus im nordchinesischen Ürümqi sind mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen – darunter auch Verwandte von Abdulhafiz Maimaitimin. Die Frage, warum sie starben, führte in China zu Protesten.
07.12.2022, 12:0607.12.2022, 12:08
Elena Lynch / watson.ch
"Es geht mir nicht gut, Entschuldigung", sagt Abdulhafiz Maimaitimin. Seine Tante und vier ihrer Kinder sind am Donnerstag bei einem Brand in einem Hochhaus in Ürümqi in der nordwestchinesischen Region Xinjiang ums Leben gekommen. Das erfuhr er über einen Anruf bei einem Nachbarn, nachdem er das Gebäude im Internet erkannt hatte.
Er schaudert, schluchzt und sagt: "Meine Tante war wie eine zweite Mutter für mich. Es bricht mir das Herz."
Maimaitimin schaut sich ein Foto von seiner Tante und drei ihre Kinder (eins fehlt) an. Sie sind alle tot.Bild: watson.ch
Laut den lokalen Behörden sind beim Brand mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen und neun verletzt worden. In den sozialen Medien ist mittlerweile von 44 Toten die Rede, doch diese Zahl ist nicht offiziell bestätigt.
Der Brand soll von einer Steckdosenleiste in einem Schlafzimmer im 15. Stock ausgegangen sein. Die Flammen und der Rauch stiegen in die oberen Stockwerke auf. Bewohnerinnen und Bewohner atmeten die giftigen Gase ein – darunter auch die Verwandten von Maimaitimin. Sie starben in ihrer Wohnung im 19. Stock.
Keine Worte
Maimaitimin war zuletzt vor sechs Jahren dort. Kurz bevor er mit seiner Schwester und zwei Cousins China für immer verließ, übernachtete er bei seiner Tante in Ürümqi.
Jetzt sitzt er in einem Aufenthaltsraum in einem Asylheim im schweizerischen Regensdorf-Watt. Auch anwesend sind ein Freund und eine Vertreterin vom uigurischen Verein der Schweiz und dem sogenannten Weltkongress der Uiguren. Sie übersetzt das Gespräch mit watson. Für den Schmerz, den er fühlt, findet er im Deutschen noch keine Worte. Er ist erst seit einem Jahr in der Schweiz.
Maimaitimin sitzt im Aufenthaltsraum im Asylheim. Bild: watson.ch
Maimaitimin zeigt ein Video von seiner verstorbenen Tante: Sie liegt in einem gelben Leichensack mit schwarzem Reißverschluss. Nur der Kopf schaut raus. Die Augen sind zu, der Mund ist offen. Die Haut sieht aus wie Marmor.
Verschlossene Türen
Die Region Xinjiang steht seit mehr als 100 Tagen unter strengen Ausgangssperren, um das Coronavirus im Rahmen der chinesischen Null-Covid-Politik zu bekämpfen.
Maimaitimin zeigt Videos, auf denen Menschen in Schutzanzügen Hauseingänge mit Metallvorkehrungen verriegeln. Die Echtheit der Videos lässt sich nicht überprüfen.
Ein Sicherheitsbeamter in Schutzkleidung steht an einem Eingangstor zu einem Wohnviertel in Peking Wache.Bild: AP / Andy Wong
Um Mobilität zu begrenzen und zu kontrollieren, wird in Bürogebäuden und Einkaufszentren oft nur ein Ausgang offengehalten. Abgeriegelte Notausgänge in öffentlichen Gebäuden sind ein alltägliches Phänomen, heißt es in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Auch in Wohngebäuden, die wegen Infektionen abgeriegelt werden, sind Türen oft verriegelt. Der Brandschutz unter diesen Bedingungen wird in der Bevölkerung emotional diskutiert.
Maimaitimin sagt: "Meine Familie konnte nicht ins Freie flüchten, weil die Wohnungstür von außen verschlossen war." Personen im Haus hätten ihm das bestätigt.
Am Freitag wurden in den sozialen Medien Fotos von Bolzenschneidern veröffentlicht, die sie sich die Leute gekauft hätten, um im Notfall Vorhängeschlösser aufbrechen zu können.
Es wurde spekuliert, dass die Bewohnerinnen und Bewohner eingesperrt waren oder nur wenige Stunden am Tag nach draußen durften.
"Verdrehte Tatsachen"
Die Behörden widersprechen dieser Darstellung. So sagt das chinesische Konsulat in der Schweiz in einer Stellungnahme zu watson, dass es nach offiziellen Informationen im betroffenen Viertel "weder sogenannte Verriegelung der Gebäude mit Draht noch Verschluss von Türen der Haushalte" gab. Die im Internet geposteten Fotos seien "böswillige Fehlinformationen" und "Verdrehungen der Tatsachen".
Das Viertel sei am 12. November von einem Hochrisikogebiet auf ein Niedrigrisikogebiet abgestuft worden. Und seit dem 20. November könnten die Bewohnerinnen und Bewohner außerdem abwechselnd aus dem Haus und sich innerhalb des Viertels bewegen.
Laut dem chinesischen Konsulat in der Schweiz soll "eine umfassende Untersuchung" ergeben haben, dass einige Elektroleitungen in den Wohnungen nicht den Brandschutzbestimmungen entsprechend installiert worden seien. Zudem hätten "die engen Straßen" sowie "das chaotische Parken von Privatautos" den Löschfahrzeugen den schnellen Zugang erschwert.
Die Feuerwehr brauchte nach eigenen Angaben drei Stunden, um das Feuer zu löschen. In den sozialen Medien kursierten Videos, auf denen zu sehen war, wie der Wasserstrahl das Feuer wiederholt verfehlte, weil die Löschfahrzeuge zu weit weg waren.
Ausschnitt aus einem Video, das die Löscharbeiten dokumentierte. Der Wasserstrahl erreicht das Feuer nicht.Bild: UGC
Manche Nutzerinnen und Nutzer merkten an, dass die Feuerwehr wegen Corona-Absperrungen oder Autos nicht durchkamen, deren Besitzerinnen und Besitzer unter Quarantäne gestellt worden waren. Belege gibt es dafür nicht.
"Tritt zurück!"
Die Frage, warum Bewohnerinnen und Bewohner nicht vor dem Feuer ins Freie fliehen konnten, löste Proteste in China aus, die es so seit jenen auf dem Tiananmenplatz 1989 nicht mehr gegeben hat. In Shanghai schrien Protestierende: "Tritt zurück!" Und meinten damit den Parteichef Xi Jingping.
Die Menschen scheinen ihre Belastungsgrenzen erreicht zu haben – insbesondere in Xinjiang, wo sie seit mehr als 100 Tagen im Lockdown leben. Aber auch landesweit sind sie seit drei Jahren anhaltend Ausgangssperren ausgesetzt, die vielen von ihnen das Leben und den Lebensunterhalt gekostet haben.
In Hongkong wurden Blumen und weißes Papier für die Opfer des Brandes in Ürümqi niedergelegt.Bild: AP / Zen Soo
Doch der Brand in Ürümqi ließ sie auf die Straßen gehen, schließlich hätte es auch sie treffen können.
Zäune, Checkpoints und Aufpasser:innen
Diese Erkenntnis ließ in Xinjiang sogar Han-Chinesen und Uiguren nebeneinanderstehen – zwei ethnische Volksgruppen, die sich als gesellschaftliche Mehrheit und Minderheit sonst gegenüberstehen.
In China leben rund zehn Millionen Uigurinnen und Uiguren. Auf dem Papier sind sie Chinesinnen und Chinesen, als muslimische Minderheit werden sie unterdrückt. Die meisten von ihnen leben in der Region Xinjiang, die bis 1949 eine eigenständige Republik war. Nach und nach haben die Behörden dort einen Überwachungsstaat aufgebaut, wie aus internationale Recherchen hervorgeht.
Maimaitamin sagt: "Es wurde zunehmend schwieriger, dort frei zu leben und frei zu wachsen." In seiner Heimatstadt Hotan wurden die Uigurinnen und Uiguren zunehmend kontrolliert: Ihre Wohnungen wurden durchsucht, Viertel umzäunt und Checkpoints errichtet.
Die Verwandlung von Xinjiang in einen Überwachungsstaat ist auf Chen Quanguo zurückzuführen. Von 2016 bis 2021 war er Parteisekretär in Xinjiang. Davor war er in gleicher Funktion in Tibet. Auch in diesem autonomen Gebiet amtierte er mit harter Hand.
Chen Quanguo gestikuliert während einer Gruppendiskussion am Rande des Nationalen Volkskongresses 2019 in Peking.Bild: AP / Mark Schiefelbein
Laut dem "Spiegel" schickte er in Tibet zehntausende Genossinnen und Genossen aufs Land, wo sie bei tibetischen Familien und Mönchen schliefen und sie so infiltrierten. Auch in Xinjiang platzierte er chinesische "Kader" in Häusern von Uigurinnen und Uiguren, wo sie als Aufpasser leben und schlafen sollten.
Weitverbreitete Skepsis
So auch im Hochhaus in Ürümqi. In einem Chat, in dem Bewohnerinnen und Bewohner miteinander kommunizierten, schrieb ein Nachbar an die Kader: "In der Wohnung 1901 sind Kinder. Helft ihnen! Sie können nicht raus. Die Türen sind abgeriegelt." Es war die Wohnung seiner Tante.
Maimaitamin ist überzeugt: Seine Tante und ihre Kinder wurden absichtlich nicht gerettet, weil sie uigurisch waren.
Der Anthropologe Adrian Zenz sagt auf Anfrage zu watson: "Solche Skepsis gegenüber der Regierung ist bei den Uigurinnen und Uiguren weit verbreitet. Es gibt dafür aber keine Anhaltspunkte. In diesen Wohnblöcken wohnen nicht nur Uigurinnen und Uiguren."
Es sei aber wahrscheinlich, dass Uigurinnen und Uiguren stärkeren Überwachungsmaßnahmen ausgesetzt seien und der Lockdown bei ihnen darum stärker ausfalle, was wiederum dazu führen könne, dass die Feuerwehr nicht so schnell hinkomme.
Kein Kontakt
Zenz hat zahlreiche Studien publiziert, in denen er die Existenz der Umerziehungslager für ethnische Minderheiten in Xinjiang beweist.
Laut den internationalen Recherchen Xinjiang Police Files und China Cables wurden in Xinjiang seit 2017 mehr als eine Million Uigurinnen und Uiguren in Umerziehungslagern interniert.
Mehrere Länder stufen das Vorgehen der Behörden in Xinjiang als "Genozid" ein, darunter Kanada, die Niederlande und die USA. China selbst spricht von "kostenloser Berufsbildung".
Maimaitamin hatte 2017 das letzte Mal von seiner Tante gehört. Dann kamen ihr Mann, sein Onkel, ihr Bruder, sein Vater, und fünf andere Familienmitglieder in ein Umerziehungslager. Aus Angst vor Konsequenzen brachen sie den direkten Kontakt danach ab.
Auf WeChat – dem chinesischen Pendant zu Whatsapp – konnte er immerhin ihre Status sehen.
Nun sind auch die verstummt.