Anna Cavazzini auf schwieriger Mission.Bild: watson
Reportage
Gerade einmal 96 Menschen haben bei der Bundestagswahl 2017 in Böhlen die Grünen gewählt. Am Sonntag zur Europawahl sollen noch einige dazukommen. Dafür kämpft Anna Cavazzini. Sie will für Sachsen nach Brüssel.
Natürlich ist auch Böhlen plakatiert. In diesen Tagen, kurz vor der Europawahl Ende Mai. Wie analoge Spruchkarten hängen die Schilder verloren im Raum. Die Großflächenplakate von CDU und SPD wirken hier übertrieben groß. Manfred Weber grinst ins Leere und Katarina Barley lugt vorbei am Biergarten auf Buschis Fahrschule. Er versucht mit "Heimat" zu Punkten, sie mit Kapuzenpulli.
Es ist Mittag. In Böhlen. Das kleine Örtchen in Sachsen ist südlich von Leipzig gelegen. Von den knapp 7000 Einwohnern sind im Ortskern nur wenige zu sehen. Ein paar Schulkinder beschallen die Straßen mit Musik aus Boxen, die man nicht sieht. Schaufensterscheiben sind verhangen, Schilder vereinzelt verblichen. Asia-Imbiss, Frisierboutique, Parkett-Beratung, dazwischen viel Grün. Bergbausymbole wie Schlägel und Eisen prägen das Stadtbild. "Niklas fährt mit" klebt auf einer Heckscheibe, auf einer anderen die "Böhsen Onkelz". Ein Plastikstorch grüßt von einem Hochsitz, der Instantkaffee kostet einen Euro.
In der Dönerbude aber hat sich eine kleine Schlange gebildet. Gegrüßt wird mit "Mahlzeit". Beim Betreten wird vor Stufen gewarnt. Der Inhaber ist Türke, er lebt seit drei Jahren in Böhlen, seit zwölf in Deutschland. Wählen darf er nicht.
Andreas* und Arne* schon. Sie sitzen im Blaumann in einer kleinen Ecke hinten im Laden. Der Ingenieur und der Umwelttechniker stärken sich in ihrer Pause mit Dönerteller und Ayran. Turksat läuft im Hintergrund. "Was stinkt, das sind wir", sagt Arne und lacht. Sie sind im Außendienst und haben in der Chemiefabrik in Böhlen gerade die Technik gewartet. Aus Erdöl wird dort eine Vorstufe für Plastik produziert. Dass 200 Meter weiter gleich eine Gruppe junger Grüner in den Europawahlkampf zieht, davon wissen sie nichts. Es ist ihnen auch egal.
"Die Grünen? Was wollen die denn in Böhlen?"
Andreas hat einen Verdacht: "Die kommen bestimmt wegen des ständigen Alarms in der Chemiefabrik oder wegen der Braunkohle."
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Denn in Böhlen haben Braunkohle und chemische Industrie lange Tradition. Die Gegend befindet sich zwar inmitten eines Strukturwandels, stillgelegte Tagebauten und Fabriken werden im Umland zu Freizeit- und Erholungslandschaften umgebaut. Die dampfenden Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Lippendorf sind aber das Erste, was man sieht, wenn man mit der Bahn nach Böhlen reist.
"Was da rauskommt, ist das böse, böse Klimagas CO2", sagt Arne über den dampfenden Kessel. "Wasserdampf", schiebt Andreas hinterher. Freunde der Grünen sind die beiden nicht. "Die wollen doch wieder zurück in die Höhle", schimpft Andreas. Selbstverständlich müsse die Industrie umweltfreundlich sein, sagt er, aber man solle doch bitte nicht übertreiben. "Man muss Machbarkeit und Illusion auseinanderhalten." Wählen gehen sie. "Klar", sagen beide. "Aber bestimmt nicht die Grünen. Und natürlich auf keinen Fall die AfD". Von den etablierten Parteien fühlen sie sich nicht vertreten. Nicht mehr. "Gerade die Europapolitiker sind doch meilenweit weg von den Leuten", sagt Arne. "Ich kann die Politik nicht mehr ernst nehmen. Wenn in Deutschland jetzt schon Klimanotstand ausgerufen wird. KLIMANOTSTAND!"
Arne hat im Deutschlandfunk gehört, das Hauptthema im Europawahlkampf sei Klimaschutz. Da musste er lachen. Er hat Freunde und Bekannte gefragt, ob das irgendwie Thema sei, die mussten dann auch lachen.
"Was soll diese Klimahysterie?"
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Gleich hinter dem Bahnhof hat das neunköpfige Wahlkampfteam um Anna Cavazzini am frühen Nachmittag einen kleinen Stand aufgebaut: Tisch, Schirm, Pavillon, zwei Liegestühle. Ein Transparent ist gespannt. "Ein grünes Europa kennt keine Grenzen" steht darauf. Sie haben Kuchen gebacken. Der Kaffee kommt aus der XXL-Pumpkanne. Im Hintergrund hustet ein riesiger Kühlturm des Kohlekraftwerkes Wasserdampf in den Maihimmel. Schräg gegenüber sind Fenster und Türen des alten Bahnhofs mit Pflastersteinen zugemauert.
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Cavazzini kommt gerade vom Haustürwahlkampf in einer Plattenbausiedlung. Sie wirkt müde. Kein Wunder. Seit Wochen ist sie im Wahlkampfmodus. In der sächsischen Schweiz hat sie vegane Würstchen gegrillt, in Torgau ist sie von Haus zu Haus gezogen, in Chemnitz, Halle oder Berlin hat sie geworben und geflyert. Cavazzini ist die Europakandidatin der Grünen für Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Sie steht auf Listenplatz 7. Heißt: Wählen sieben Prozent der Deutschen am Sonntag Grün, ist ihr der Einzug ins EU-Parlament sicher.
Der Weg nach Brüssel aber führt über Böhlen. Heute zumindest. Der Wahltisch ist mit Flyern, Kugelschreiber, Teebeuteln und Blumensaat gedeckt. Bereit für den Erstkontakt. Fehlen nur noch? Genau: Böhlener.
Zu sehen sind aber fast keine.
Egal. Dann bleibt zumindest Zeit für ein schnelles Briefing. Diane Apitz gibt eine Einführung in Orstkunde. Sie ist vor Kurzem nach Böhlen gezogen und die einzige aktive Grüne im Ort. Ja, das ist Braunkohle, erklärt sie ihren Parteifreunden mit Blick auf die Türme im Hintergrund. "Wie finden die Leute das Kraftwerk", fragt Cavazzini. "Schwieriges Thema", bekommt sie als Antwort. Die Leute kämen eben traditionell aus der Braunkohle.
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Dann, endlich: Von weitem ist ein Zug zu hören. "Pendlermassen!", freut sich eine aus der Gruppe. Anna Cavazzini läuft Richtung Bahnhofausgang. Vier potentielle Wähler kommen ihr entgegen. Cavazzini wird die ersten Flyer los. "Es gibt auch noch Kuchen am Stand." Cavazzini gibt alles.
Wahlkampf in grünen Hochburgen kann jeder. Cavazzini aber wählt die harte Tour. Dabei könnte sie es sich einfach machen. Sie weiß, aufgrund des bundesweiten Trends sitzt sie am Sonntag im Europäischen Parlament. Mit oder ohne Böhlen. Seit dem Hitzesommer 2018 sind die Grünen im Aufwind. Die Angst vor der atomaren Katastrophe hat die Partei einst ins Parteiensystem katapultiert. Die Angst vor dem Klimakollaps beschert ihnen heute zweistellige Ergebnisse. Bundesweit erleben die Grünen gerade einen Höhenflug. Im Osten ist das anders. In Böhlen sowieso. 96 Menschen haben dort bei der Bundestagswahl 2017 mit ihrer Zweitstimme die Grünen gewählt. Dafür jeder Vierte die AfD.
"Wenn man in Berlin Wahlkampf macht, kriegt man mehr positives Feedback", sagt Cavazzini und lacht. Sie weiß, Osten und Land sind schwieriges Terrain für die Grünen. Aber genau deswegen sei sie hier. In Sachsen. In Böhlen. "Dazu hat mich keiner gezwungen", sagt sie. Sie mag es, mit Leuten zu reden, die man erst überzeugen muss. Sie will für die Region nach Europa. Vor allem aber will sie Europa in die Region holen. Präsenz zeigen in Sachsen. Ein Büro aufbauen. Ansprechpartner sein. "Das ist hier besonders wichtig", sagt sie.
Das hat aber auch seinen Preis. Auf ihrer Tour sind Beschimpfungen keine Seltenheit. Der Ton sei bisweilen aggressiv. "Aber das wird besser." Der Aufschwung der Grünen komme auch in der Peripherie an, glaubt sie.
Cavazzini ist 36 Jahre alt, sie lebt fleischlos, autolos, spricht drei Sprachen. Müsste man eine grüne Karriere erfinden, käme wohl so etwas wie Cavazzinis Vita dabei heraus. Sie wächst in der hessischen Kleinstadt Schlüchtern auf. Von dort geht es in die Welt: Freiwilliges Jahr in Mexiko, European Studies in Chemnitz, Erasmus in Prag. Für den Master geht sie nach Berlin. Es folgen fünf Jahre Brüssel, Stationen im Auswärtiges Amt und bei der UNO in New York. Vor ihrer Kandidatur war sie Referentin für Menschenrechte bei Brot für die Welt und auch für das Kampagnennetzwerk Campact ist sie aktiv.
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An der Uni kämpfte sie für die Einführung von Fair-Trade-Kaffee, im Mai 2019 steht sie im sächsischen Böhlen und ringt um Wähler und Wahrnehmung. Doch Menschen, die sie überzeugen könnte, gibt es kaum. "Acht Minuten bis zum nächsten Zug", sagt einer. Vögel zwitschern. Der Wind wird im Baum zum Geräusch. Ein Sportflugzeug knattert durch das Wolken-verhangene Nachmittagsblau.
Die Europawahl ist auch ein Testlauf für die Landtagswahl in Sachsen Anfang September. Sind die Grünen am Sonntag erfolgreich, würde das auch Auftrieb für die Landtagswahl geben, glaubt Cavazzini. 2014 sind sie mit 5,7 Prozent knapp in den Landtag eingezogen. In keinem anderen Bundesland ist die AfD so stark wie in Sachsen. Bei der Bundestagswahl errang die sie dort das stärkste Zweitstimmenergebnis – noch vor der CDU. Cavazzini will sich damit nicht abfinden. Die Verantwortung für diese Entwicklung sieht sie auch bei der CDU. Die habe in Sachsen über Jahre einen patriarchalischen Stil geprägt. "Wir regeln das und ihr muckt nicht auf", sei der Deal gewesen. Cavazzini aber wünscht sich eine aktive Bürgergesellschaft.
Dann ruckelt wieder ein Zug heran. Rollkoffer werden über Beton gezogen. Tatsächlich ziehen zwei Dutzend Menschen vom Bahnhof in den Ort. Cavazzini ist schon da, hält ihre Flyer bereit und teilt wie Moses das Meer. Ihre Sätze werden schneller: "Hallooo, ich bin die Grünenkandidatin für die Europawahl, darf ich Ihnen einen Fly…" – "Ich wähl die AfD", ruft jemand und wirft den Prospekt auf den Boden. "Nee, falsche Partei", sagt ein Zweiter im Vorbeigehen. "Ist das umweltfreundliches Papier?", scherzt eine Dritte. Wirklich stehen bleibt keiner.
Und dann passiert es schließlich doch:
Wie aus dem Nichts steht er plötzlich am Stand: Ein Wähler. Aus Böhlen.
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Grüne: "Kaffee?"
Mann: "Ja."
Grüne: "Kuchen?"
Mann: "Können Sie den auch einpacken?"
Der Kuchen wird gewickelt. Das Eis ist gebrochen.
"Ich hätte mal 'ne Frage", murmelt er. "Machen sie sich auch stark gegen die Fahrpreise?"
"Ja", sagt Cavazzini und wird inhaltlich: "Wir wollen, dass die Bahn von der Mehrwertsteuer befreit wird. Und wir sind auch für eine Kerosinbesteuerung."
"Mmmh", sagt er, steckt den Kuchen weg und gibt sich mit der Antwort zufrieden.
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Nach gut zwei Stunden beenden die Grünen schließlich ihre Mission. Auch sie sind zufrieden. Fast keine Flyer mehr, sagt einer. Noch schnell eine Instastory machen und das Erlebte dokumentieren. Das Kraftwerk prustet weiter Wolke um Wolke in den späten Nachmittag. Cavazzini wird noch eine Woche wahlkämpfen: Sie wird Habeck treffen, Bouldern und Karaoke singen. Ob zu den 96 Grünen-Wählern in Böhlen bald neue hinzukommen, bleibt ungewiss. Sicher ist aber: Eine Woche noch, dann sitzt Cavazzini in Brüssel. Für Sachsen. Für Böhlen. Ob es will oder nicht.
*Namen geändert