Deutschland macht sich locker – ist das Corona-Risiko beherrschbar? So lautete die übergeordnete Frage bei "Anne Will" am Sonntagabend. Während sich eine Forscherin vom Max-Planck-Institut besorgt über die neuen Lockerungen äußert, begrüßt der stellvertretende Parteivorsitzende der FDP die neuen Maßnahmen – und macht dabei jeden Bürger selbst für seine Gesundheit verantwortlich.
Bund und Länder haben am vergangenen Mittwoch weitreichende Lockerungen der Corona-Maßnahmen beschlossen. Als eine Art "Notbremse" soll eine regionale Obergrenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Menschen greifen. Ob es dadurch nun zu einem neuen massiven Ausbruch des Virus kommt, ist noch nicht abzusehen – die Reproduktionszahl ist laut RKI bereits wieder auf 1,13 gestiegen sein. Trotzdem glaubt Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, nicht, dass die Lockerungen zu leichtsinnig waren.
"Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung. Wir agieren umsichtig und mit Kontrolle. Wir machen alles und wir haben extreme Hygienestandards", erklärt die SPD-Politikerin das Handeln. Ob sie die neue Reproduktionszahl am Wochenende nicht haben zusammenzucken lassen, will Moderatorin Anne Will von ihr wissen. Darauf antwortet Dreyer nüchtern: "Ich zucke am Wochenende nicht, wenn Zahlen veröffentlicht werden. Die Zahlen am Wochenende stimmen meistens nicht. Ich verlasse mich auf die Zahlen in unserem Bundesland und die sind niedrig."
Auch hält die 59-Jährige wenig von flächendeckenden Tests: "Wir haben so niedrige Fallzahlen. Bei den Tests sind wir quasi bei 0. Wir brauchen eine andere Strategie." Die Ministerpräsidentin fordert, dass nur dann die Umgebung getestet werden soll, wenn es einen positiven Fall gibt. "Wenn im ganzen Landkreis kein einziger Fall auftaucht, dann muss man auch nicht alle testen. Wir müssen uns fokussieren."
Auch Wolfgang Kubicki, Bundestagsvizepräsident und stellvertretender Parteivorsitzender der FDP, findet, dass die Lockerungen angemessen sind: "Was sollen wir mit der R-Zahl anfangen? Das RKI sagt selbst, dass je geringer die Zahl ist, desto weniger ausschlaggebend ist sie auch." Als Juristen beschäftigen ihnen insbesondere die "massiven Grundrechtseinschränkungen". "Nur weil es in einem Altenheim in Rosenheim einen Ausbruch gibt, muss ich doch nicht jedes Restaurant in Schleswig-Holstein schließen."
Ob sein Vertrauen in die Bundesbürger nicht etwas zu groß sei, fragt Anne Will und darauf liefert der FDP-Politiker eine klare Antwort: "Unser Gesellschaftsbild ist auf der Eigenverantwortung unserer Bürger gebaut. Wenn wir nicht mehr an diese glauben, dass müssen wir ihnen auch das Wahlrecht entziehen." Zudem äußert sich der 68-Jährige radikal in Bezug auf die Gesundheit der Menschen: "Jeder ist für seine eigene Gesundheit verantwortlich."
Doch Viola Priesemann, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, widerspricht dem Bundestagsvizepräsidenten darin deutlich: "Das Virus wird uns noch Jahre begleiten und nicht Monate. Wir brauchen also eine Strategie, die langfristig tragbar ist und Menschen sowie der Wirtschaft Planungssicherheit gibt." Die Forscherin befürchtet, dass durch die neuen Lockerungen das Vertrauen in der Bevölkerung nicht wiederhergestellt werden kann.
Die Forscherin ist der Meinung, dass wir die strengen Maßnahmen noch länger hätte durchziehen sollen: "Die Situation jetzt kann man mit einem Waldbrand vergleichen. Wir waren fast fertig, ihn zu löschen, gehen jetzt aber einfach nach Hause." Priesemann behauptet, dass noch ein paar Wochen strenge Maßnahmen dazu geführt hätten, nur noch wenige Hundert Fälle im Land zu haben, die einfach zu tracken gewesen wären: "Dann wäre es ein Kinderspiel gewesen." Sie fügt noch eine Frage hinzu: "Wollen wir Kontrolle oder wollen wir mittelfristig unkontrollierte, chronische Ausbrüche?"
Auch Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V., betrachtet die neuen Lockerungen eher kritisch. Falls wirklich 50 Personen von 100.000 in Deutschland erkranken sollten, würden die Gesundheitsämter nicht mehr hinterherkommen, die Kontaktverfolgung durchzuführen: "Personen nachzuverfolgen, ist für uns 'business as usal'. Aber es hängt stark von der Menge ab."
Die Humanmedizinerin glaubt, dass eine Kontaktverfolgung nur möglich ist, wenn das Personal verdreifacht wird – und das auch dauerhaft. Auch eine mögliche App würde ihrer Meinung nach nichts daran ändern, dass die Menschen sich dennoch mit vielen Fragen an das Gesundheitsamt wenden würden.
Am 16. Mai soll auch die Bundesliga ihren Spielbetrieb wieder aufnehmen – als einzige Top-Liga der Welt. Ob dies verhältnismäßig sei, will Anne Will von Kubicki wissen: "Ich finde nicht, dass hier falsch entschieden wurde. Man kann das nicht verbieten, nur weil andere nicht die Möglichkeit haben, das so zu gestalten." Und er fügt noch einen kruden Gedanken hinzu: "Ich glaube, das hilft auch zur Beruhigung der Bevölkerung, wenn da samstags wieder Fußball läuft."
Doch Peter Dabrock, Professor für systematische Theologie und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, sieht das anders. Er glaube nicht, dass es nur eine symbolische Frage ist, ob Kindergärten geschlossen bleiben, während die Bundesliga wieder spielt. Hierbei ginge es um eine "Vorzugsbehandlung". Während die Bevölkerung massiv in ihren Grundrechten beschränkt würde, genieße die Bundesliga Vorzüge. Auch behauptet er zudem, dass vielen systemrelevanten Bereichen die Tests fehlten, weil diese für die Bundesliga abgezogen werden würden.
Dem widerspricht jedoch Fußballfan Malu Dreyer. Auch sie ist der Meinung, dass es vertretbar sei, dass die Bundesliga ihren Betrieb wieder aufnehme, denn auch in anderen Bereichen seien weitreichende Lockerungen beschlossen worden. Ebenso stünden überall ausreichend Tests zur Verfügung.