Am Sonntagvormittag ist es auf dem Alexanderplatz in Berlin trüb und ruhig. Ein paar Menschen, die sich auf ihren T-Shirts und Plakaten gegen die Impfung aussprechen, schauen auf ihre Handys. Der Treffpunkt für die illegale Demo wird über den bei Querdenkern und Verschwörungsideologen beliebten Messenger-Dienst Telegram versendet. Doch eigentlich sind es mehrere Treffpunkte und die Ortsangaben ungenau. Man weiß nicht recht, wo man hingehen soll. Es dauert einige Zeit, bis die Impfgegner vom Alexanderplatz auf Gleichgesinnte treffen. Aber das werden sie im Laufe des Tages öfter.
Rückblick: Vor genau einem Jahr durchbrachen Rechtsradikale und Verschwörungsideologen im Zuge einer Anti-Corona-Demo eine Polizeiabsperrung und stürmten auf die Treppe des Reichstagsgebäudes. Die Bilder lösten bundesweit Entsetzen aus. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach damals von einem "unerträglichen Angriff auf das Herz unserer Demokratie".
Ein Jahr später, am Jahrestag der versuchten Stürmung, mobilisiert die Querdenker-Szene erneut. Diesmal ist die Polizei vorbereitet – zumindest vor dem Reichstagsgebäude. Die Bilder sollten sich nicht wiederholen. Das Regierungsviertel wurde im Vorhinein großräumig abgesperrt. Von den für das Wochenende 31 angemeldeten Versammlungen wurden die meisten verboten. Darunter die große Demonstration der Querdenker-Initiative "Das Jahr der Freiheit und des Friedens" auf der Straße des 17. Juni. Doch von Verboten und Absperrungen wollten sich die selbsternannten Freiheitskämpfer nicht abhalten lassen.
Bereits am Samstag widersetzten sich tausende Demonstranten dem Versammlungsverbot und zogen durch die Straßen der Hauptstadt. Es gab über 100 Festnahmen und vereinzelte Zusammenstöße mit der Polizei. Ein Tag später, am Sonntag, wird schnell klar, dass sich dieses Szenario wiederholen wird. Gegen Mittag schließen sich immer mehr Demonstrationsgruppen zusammen und streifen auf der Suche nach Verbündeten ziellos umher. Die Polizei ist zahlenmäßig unterlegen und muss spontan auf das verstreute Teilnehmerfeld reagieren. So schaffen es die Demonstrierenden ungehindert die Straßen an mehreren Orten für sich einzunehmen und den Verkehr zu blockieren. Sie fordern "Friede, Freiheit, Demokratie".
Einen Plan gibt es unter den Teilnehmern nicht und wenn doch, hat jeder einen anderen. Immer wieder wechseln die Demogruppen die Richtung. Auf Telegram trudeln die Informationen über die Standorte der anderen Demo-Züge ein. Einzelne Personen meinen, andere Informationen zu haben und animieren die Gruppe, eine andere Richtung einzuschlagen. "Wir müssen in Bewegung bleiben", ruft ein Mann an der Spitze des Zuges und wedelt mit den Armen. Die anderen laufen einfach hinterher.
Eine Stunde später scheint das planlose Umherstreifen für die Demonstrierenden aufzugehen. Nach einem Ausflug in den Kollwitzkiez in Prenzlauer Berg trifft ein Demo-Zug mit mehreren hundert Teilnehmern an der Weinmeisterstraße in Mitte auf eine zweite Demo-Gruppe. Unter tosendem Applaus und "Oh, wie ist das schön"-Rufen vereinen sich die beiden Gruppen. Eine Frau kämpft unter tiefer Ergriffenheit mit den Tränen. Es werden Deutschlandfahnen geschwenkt. Auf einer steht "Merkel muss weg". Die illegale Demo ist nun auf mehrere tausend Teilnehmer angewachsen. Die Polizei kann nicht mehr tun, als die Menschenmasse zu begleiten. Straßen sind nur vereinzelt abgesperrt. Meistens haben die Demonstrierenden freie Bahn. Hin und wieder werden einzelne Personen gezielt aus der Menge ergriffen und abgeführt.
Thilo Cablitz, der Pressesprecher der Polizei Berlin, erklärt am Telefon gegenüber watson die Strategie: Da die Demoteilnehmer spontan reagieren, müsse auch die Polizei ihr "Konzept spontan anpassen". Es sei "taktisch unklug, kleinere Straßen zu sperren", weil sich die Demoteilnehmer dann einen anderen Weg suchen würden. Ziel sei es, das Teilnehmerfeld zu zerstreuen und Rädelsführer ausfindig zu machen und in Gewahrsam zu nehmen.
Doch das Teilnehmerfeld findet immer wieder zusammen. Bereits seit mehreren Stunden irren die Demonstrierenden planlos durch Berlin-Mitte und andere Bezirke. Darunter auch Eduard. Er trägt ein gelbes T-Shirt mit der selbstgemalten Aufschrift "Es reicht" und eine Kappe, auf der eine Spritze steckt. Er hält die Corona-Maßnahmen für unverhältnismäßig, glaubt aber auch, dass Masken und die Impfung zum Tod führen. Dass er Teil einer nicht genehmigten Demonstration ist, stört ihn nicht. "Ich lasse mir von niemandem sagen, wann ich demonstrieren darf." Etwas weiter vorne in der Gruppe geht Silas, er ist 20 und zweifelt nicht an der Gefährlichkeit des Virus . "Es geht nicht darum, Corona zu leugnen", sagt er, "es geht darum, Menschlichkeit zurückzubringen". Vielen Menschen würde es in der Pandemie durch die Maßnahmen schlechter gehen.
Gegen Nachmittag hat es eine größere Gruppe auf die Karl-Marx-Allee geschafft. Das Teilnehmerfeld besteht hauptsächlich aus Personen mittleren Alters, einige haben ihre Kinder dabei. Schirme in Regenbogenfarben sind vereinzelt zu sehen. Marihuana-Geruch steigt auf. Einige Teilnehmer fordern dazu auf, von den Bürgersteigen auf die breite Straße zu gehen und somit den Verkehr zu blockieren. Mehrere Mannschaftswagen der Polizei sind vor Ort, hindern die Demonstrierenden aber nicht daran, weiterzuziehen.
Als eine Demo-Teilnehmerin von der Polizei abgeführt wird, schlägt die Stimmung um. "Feiglinge" und "Verräter" schreien die Menschen den Beamten entgegen. "Es geht auch um eure Kinder", ruft eine Frau. Nachfrage bei Thilo Cablitz, dem Polizeisprecher. War es Teil der Strategie, die illegalen Demos gewähren zu lassen? Das Aufsplitten und Zerstreuen sei "bisher schon gut gelungen", meint er. "Ursprünglich wollten die Demonstranten ja auch an die symbolträchtigen Orte im Regierungsviertel. Nichts davon hat geklappt", erklärt er im Zwischenfazit. Bisher seien etwa 80 Menschen wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsverbot festgenommen worden.