Annis Stimme zittert, als sie zu reden beginnt. Die Frau mit den bunten Strumpfhosen steht auf einer Bühne vor dem Bundeskanzleramt und erzählt davon, wie ein einzelner Tweet eine ganze Bewegung losgetreten hat.
Anni ist die Frau, die im Mai 2022 den Hashtag #IchbinArmutsbetroffen ins Internet geworfen hat. Sie ist der Stein des Anstoßes, der dazu geführt hat, dass Armutsbetroffene der ganzen Republik auf Twitter ihre Geschichte teilen.
An diesem Tag aber, vor dem Bundeskanzleramt im Berliner Regierungsviertel, bleiben diese Geschichten nicht länger auf Twitter. Stattdessen sprechen zwölf Betroffene auf der Kundgebung der Initiative #IchBinArmutsbetroffen. Knapp 200 Menschen sind gekommen, um ihnen zuzuhören. Viele davon sind selbst arm.
Für viele, die von weiter weg hätten anreisen wollen, ist Mobilität ohne das Neun-Euro-Ticket wieder zu teuer geworden. Politische Teilhabe nicht möglich, wegen Armut.
Auf der Bühne bekommt Anni das Zittern in ihrer Stimme schnell in den Griff, während sie ihre Geschichte erzählt. Die Anwesenden klatschen und jubeln an den entscheidenden Stellen – und dort, wo sie sich selbst in der Erzählung wiederfinden. "Es wird ein Bild von uns geschaffen, das einfach nicht wahr ist", sagt Anni. Aus etlichen Kehlen im Publikum ertönt ein lautstarkes "Jaa".
Am Ende von Annis Rede ist nicht erkenntlich, ob sie lacht oder weint. Womöglich ist es ein bisschen von beidem, als sie ruft: "Ich bin armutsbetroffen und ich schäme mich nicht mehr dafür."
Was viele der Versammelten eint, ist mehr als ihre prekäre Lage. Sie teilen die Diskriminierungserfahrung. Sie teilen ihre Frustration, die Wut. Sie wollen nicht, dass Sozial- und Wohlfahrtsverbände, genauso wie die Politik nur über sie sprechen, aber nicht mit ihnen.
"Uns braucht keiner zu sagen, was wir brauchen. Wir wissen ganz genau, was wir brauchen", sagt Veva im Gespräch mit watson. Die 27-Jährige macht in der Nähe von Köln eine Ausbildung zur Veranstaltungstechnikerin – und lebt in Armut. "Ich weiß, Lehrjahre sind keine Herrenjahre", sagt sie, aber auch Azubis müssten irgendwie überleben können. Veva wird an diesem Tag wie Anni auf der Bühne sprechen. Sie hat einen Poverty Slam vorbereitet. Ein Gedicht über Armut und Solidarität.
Seit es die Bewegung, seit es den Hashtag gibt, teilen die Armutsbetroffenen noch etwas: Hoffnung.
Die Veranstalterin der Kundgebung, Susanne Hansen, ist überzeugt davon, dass die Bewegung einen langen Atem brauchen wird. "Es wird nicht schnell gehen, dass sich etwas verändert", sagt sie. Was aber wichtig ist: Durch die Sichtbarkeit wird Sensibilität geschaffen. Auch sie ärgert sich darüber, dass in Talkrunden und Expert:innen-Kommissionen nicht mit ihnen gesprochen wird, sondern nur über sie. "Aber wir sind nicht leise", sagt Hansen. Und: "Wir geben nicht auf."
An diesem Oktobertag ist das anders: Politiker:innen werden nicht sprechen, es soll ausschließlich um die Betroffenen gehen. Trotzdem steht eine Vertreterin der Bundespolitik im Publikum. Janine Wissler, die Chefin der Linken.
"Diese Initiative", sagt Wissler, "ist total wichtig." Es sei nötig, über Armut und ihre Ursachen zu sprechen. Denn wir leben, meint die Politikerin, in einer Gesellschaft, in der den Armen die Schuld für ihre Situation gegeben wird. "Es handelt sich nicht um ein individuelles Versagen", sagt Wissler. Stattdessen sei es ein Gesellschaftliches. Für sie ist klar, dass all das auch in den Bundestag eingebracht werden muss.
Die Linkenchefin hat in einer ihrer Reden bereits Tweets von Armutsbetroffenen vorgelesen. An diesem Tag unterhält sie sich mit vielen der Anwesenden, nimmt Menschen in den Arm und hört ihnen zu. Sie ist nicht die einzige Bundespolitikerin, die die Initiator:innen gerne auf der Kundgebung gesehen hätten.
Auch Kanzler Olaf Scholz (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) waren eingeladen. Immer wieder fragt sich die Moderatorin Ines Schwerdtner, wann Olaf Scholz wohl herauskommen werde. Im Publikum bildet sich kurzzeitig ein "Olaf, Olaf, Olaf"-Chor. Vom Kanzler dennoch keine Spur.
Weil die Initator:innen Arbeitsminister Hubertus Heil dennoch den offenen Brief mit ihren Forderungen überreichen wollen, haben sie sich eine Alternativlösung ausgedacht. Statt an den Arbeitsminister aus Fleisch und Blut übergibt Schwerdtner den Brief an Heils Papp-Double. Die Zuschauenden jubeln.
Unterzeichnet wurde der Brief mittlerweile von 65.132 Menschen. Gefordert wird in darin eine Umverteilung hin zu einer gerechteren Gesellschaft. Konkret geht es um nachhaltige Entlastungen in Zeiten der Energiekrise. Um einen Abbau von Bürokratie, um einen Stopp an Mietsteigerungen und um eine Mindestrente.
Die Initiator:innen Susanne Hansen und Konstantin Seefeldt von der OneWorryLess Foundation sehen die aktuellen Entlastungs-Bestrebungen der Bundesregierung kritisch. Zu wenig, zu spät. Sie können nicht verstehen, dass der Strom nicht gedeckelt wird, dass der Gasdeckel erst kommt, wenn der Winter vorbei ist. All das, meinen beiden, schüre Frust und Angst.
Strom müssen auch Menschen, die Hartz IV beziehen, selbst zahlen. Der dafür vorgesehene Anteil im Regelsatz reicht schon jetzt nicht mehr aus, um die Kosten abzudecken. Das Geld muss also an anderen Stellen gespart werden – das sei schwierig, wenn niemand wüsste, wie stark der Preis noch steigen wird.
Hansen, die selbst Hartz-IV-Bezieherin ist, erklärt, dass diese Unsicherheit viele Menschen psychisch krank macht. "Jeder Brief, der ankommt, führt zu Angst und Druck", sagt sie.
Für die Bewegung ist klar, die Kundgebung vor dem Kanzleramt war nur der Anfang. Innerhalb von fünf Monaten ist aus einem Hashtag eine Initiative geworden. Nun, wollen die Armutsbetroffenen nicht länger schweigen, sondern laut sein, bis sich etwas verändert.