Wenn Delara Burkhardt an Europa denkt, dann ist es für sie vor allem eines: ein Versprechen. Ein Ort, der Sicherheit bietet, Freiheit und Demokratie. Ein Ort, an den ihre Großmutter 1984 nach der Ermordung des Großvaters mit ihren sechs Kindern aus dem Iran geflohen ist, um ihnen eine Zukunft zu bieten. Allem voran ihren vier Töchtern.
Ohne Kompromisse, aber mit Perspektive. Und ohne die Angst, verfolgt zu werden. Auch wenn ihre Sorge groß war – die Hoffnung auf das, was kommen würde, war größer. Denn in Europa, das wusste Delaras Großmutter, lockte ein Leben ohne Gewalt, ohne Unterdrückung, ohne Angst.
Also flohen sie.
"Bei Leuten, die eine Fluchtgeschichte in ihrer Familie haben, höre ich das immer wieder", erzählt Delara im Gespräch mit watson. Sie sitzt bereits seit 2019 als Abgeordnete für die SPD Schleswig-Holstein im Europa-Parlament und tritt auch für die kommende Wahl an. Sie sagt:
Denn ganz so aufrichtig, wie das Versprechen klingt, ist es dann doch nicht. Das merkt auch Delara früh.
Weil sie mitbekommt, dass der Schulabschluss ihrer Mutter aus dem Iran nicht anerkannt wird. Weil sie nicht mit auf einen Schüleraustausch fahren kann, da das Geld ihrer Eltern knapp ist. Weil ihr Bruder durch sein Aussehen als fremd wahrgenommen wird, obwohl er kein Wort Persisch spricht. "Dann merkt man doch schnell, dass diese Garantie auf Teilhabe, Demokratie und Sicherheit nicht unbedingt für alle gleichermaßen gilt", sagt Delara.
Schlimmer noch, dass dieses Versprechen immer weiter bröckelt.
Schon Monate vor den Europawahlen am 9. Juni sind die Sorgen vor einem Rechtsruck groß. EU-Chefdiplomat Joseph Borrell erklärte die Abstimmung über die Sitzverteilung im EU-Parlament bereits Anfang Januar als "so schicksalhaft" wie die anstehenden US-Präsidentschaftswahlen fünf Monate später.
Zwar sind sich die Rechtsaußen-Kräfte in vielen Fragen völlig uneins, aber einen gemeinsamen Nenner gibt es: die nationale Orientierung und die Skepsis gegenüber weiterer europäischer Integration.
Oder, anders gesagt: Eine Abkehr von dem Versprechen Europas, mit dem Delara aufgewachsen ist. Eine langsam, aber stetig einsetzende Schließung Europas als sicherem Hafen.
"Ich habe wahnsinnige Angst vor diesem Rechtsruck und was das für Europa bedeutet", sagt Delara. "All das, was wir erreicht haben, steht auf dem Spiel."
Der Name Delara stammt aus dem Persischen und bedeutet so viel wie "das Herz". Und der Name passt zu ihr. Da ist dieser Drang, die Welt und die Menschen verstehen zu wollen, zu helfen, anzupacken. "Wenn du mit dem Versprechen von Europa als sicherem Ort für alle aufwächst, das aber nicht für alle gleichermaßen gilt, dann kannst du entweder lethargisch werden – oder du fängst an, die Dinge zu ändern."
Delara tut Letzteres. Auch dann, wenn sie einen Schritt weitergehen muss, sich selbst ein Stückchen weiter öffnen muss, als sie eigentlich wollte.
Für den guten Zweck.
Seit dem 19. September 2022 gehen die Menschen im Iran auf die Straße, erheben unter Einsatz ihres Lebens ihre Stimme gegen das unterdrückerische Regime. Sie rufen: "Nieder mit der Diktatur!" und "Frau, Leben, Freiheit!" Neu sind diese Parolen nicht. Seit Jahrzehnten schon rufen Teile der kurdisch-feministischen Bewegung Parolen wie diese. Doch nie wurden die Proteste so laut, so heftig, so groß wie dieses Mal.
Auslöser der Massenproteste, die bis zu uns nach Deutschland schwappten, war der Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin Jîna Mahsa Amini. Sie fiel in Polizeigewahrsam ins Koma. Wenige Stunden zuvor war sie von der sogenannten Sittenpolizei in Teheran festgenommen worden, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsmäßig getragen habe. Angeblich.
Für Delara brachte dieses Vergehen das Fass zum Überlaufen. So konnte es nicht weitergehen. Sie musste laut werden. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen musste. Denn die Flucht ihrer Familie wurde seit jeher totgeschwiegen. Was zählte, war der Blick nach vorn. Die Zukunft.
Am 28. September 2022 schloss Delara sich einer Kundgebung in Kiel an, auf der für die Rechte von Frauen im Iran protestiert wurde. Als sie mit all den anderen Demonstrierenden im Bus saß und sie miteinander reden hörte, fiel ihre Schutzmauer plötzlich in sich zusammen. "Alle im Bus sahen aus, als wären sie meine Cousinen und Cousins, alle haben Farsi gesprochen – eine Sprache, die ich zwar selbst nicht sprechen kann, die mich aber immer begleitet hat und für mich eine Liebessprache ist."
Delara weint. Die gesamte Fahrt über kann sie nicht aufhören. "Diese vielen Menschen zu sehen, das hat mich so berührt." In ihren Augen schwimmen Tränen, auch jetzt noch, Monate später, während sie nur an diese Situation zurückdenkt. Ihre Stimme ist belegt. Mit dem Zeigefinger wischt sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel, lächelt dann.
Das war der Moment, in dem sie für sich beschloss, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Weil sie politisch war. Und, weil sie sich wiederholte, bis heute andauerte. Sie sagt:
Also erzählt sie ihre Geschichte im Europa-Parlament.
Aber nicht nur der Aufstand im Iran beschäftigt Delara. Da sind die "Remigrationspläne" der AfD. Da sind immer mehr Regierungen in Europa, die sich hinter solchen Ideen versammeln.
"Diese Normalisierung der Rechtsextremen und wie weit das vorangeschritten ist, das...", Delara sucht nach Worten, findet keine. Sie schüttelt den Kopf und beißt sich auf die Lippe. Stille. "Das macht mir alles wahnsinnige Angst. So hat es damals auch angefangen – erst schleichend und dann plötzlich sieht man, wie gewaltig das ist, was dahinter steckt."
Falsche Narrative, die sich verselbstständigen: Es gibt nicht genügend bezahlbaren Wohnraum? Die Flüchtlinge nehmen ihn weg! Du kannst deine Stromrechnung nicht bezahlen? Die Bürgergeld-Empfänger:innen bekommen das alles umsonst!
"Mir macht es Sorgen, dass immer mehr Menschen den Rechtsextremen glauben, dass ihre Zukunft besser wird, wenn sie sie wählen. Das Gegenteil wird der Fall sein."
Delara ist sicher: "Wenn wir es nicht schaffen, unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor den Feinden aus dem Inneren zu schützen, dann bröckelt alles, woran ich glaube. Dann bröckelt mein Bild der EU."
Doch Aufgeben kommt für die Sozialdemokratin nicht infrage. "Ich bin mir sicher, dass wir es schaffen können", sagt sie. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen – "aber im Grunde halten die Meisten Europa für eine gute Idee".
Was fehlt, sei das Vertrauen in die demokratischen Institutionen, die Visionen dessen, was Europa wieder sein könnte: Ein Ort, der Sicherheit bietet, Freiheit und Demokratie.
Die Bewältigung der Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg und die Unterstützung der Ukraine, meint Delara, hätten gezeigt, dass Europa in der Lage ist, sich zusammenzuraufen: "Das macht mir Hoffnung, dass wir als Europa es schaffen können, unser größtes Versprechen zu halten und ein sicherer Hafen zu bleiben."