Seit 2019 sitzt Damian Boeselager für die paneuropäische Partei Volt im EU-Parlament.Bild: watson / rebecca sawicki
Vor Ort
"Man könnte eine Heldengeschichte daraus machen, oder einfach sagen, wie es war", sagt Damian Boeselager, während er in einem Brüsseler Café eine dampfende Kaffeetasse in seinen Händen hält. Die langen Beine hat er überschlagen. Er trägt blaue Cordhosen, Rollkragen-Pulli mit Löchern an den Ellenbogen und Reeboks. Boeselager ist der einzige Europa-Abgeordnete für die paneuropäische Partei Volt.
Der Gründungsmythos klingt nach Sitcom: ein Italiener und ein Deutscher sitzen in einem China-Imbiss in New York City und ärgern sich über die Welt. Es ist 2017, der Brexit ist mittlerweile traurige Realität, die AfD zieht erstmals in den Bundestag ein und Donald Trump wird US-Präsident.
Statt aufzugeben, holen sich die beiden Männer eine Französin ins Boot und gründen gemeinsam eine Partei für Europa. Zwei Jahre später sitzt einer der drei im EU-Parlament: Damian.
Familiengeschichte mit antifaschistischer Tradition
Mit der Heldengeschichte spielt Damian (Hieronymus Johannes Freiherr von) Boeselager auf seine eigene Familiengeschichte an. Sein Großvater Philipp Freiherr von Boeselager gehörte zur Gruppe um Graf von Stauffenberg, die 1944 ein Attentat auf Hitler verüben wollte.
In seinem Büro lümmelt Damian gerne auf seinen Stühlen, während er sich mit seinem Team bespricht.Bild: watson / rebecca sawicki
"Wenn du es nicht besser machst, kannst du dich nicht beschweren", das habe Damian von seinem Großvater gelernt. Innerhalb der Familie sei zudem viel über Politik diskutiert worden. Sicherlich sei das von Bedeutung für seinen Werdegang, überlegt Damian laut. Der familiäre Background sei aber nicht ausschlaggebend gewesen. Vielmehr hatte er damals Frust und nichts Besseres zu tun.
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Volt-Themen im grünen Gewand
Seine erste Legislatur neigt sich mittlerweile dem Ende. Im Juni finden die Europawahlen statt. Damian kandidiert erneut auf Listenplatz eins für Volt Deutschland. "Ich bin hier noch nicht fertig", sagt er. Zwar ist er zufrieden mit dem, was er in den fünf Jahren umgesetzt hat, es gebe aber noch viel zu tun. Weil Einzelabgeordnete in Brüssel kaum etwas erreichen können, hat Damian sich einer Gruppe angeschlossen.
Damian und sein Mitarbeiter Joachim diskutieren über den Fortgang von Verhandlungen.Bild: watson / rebecca sawicki
Nach Verhandlungen mit den Liberalen und den europäischen Grünen haben er und seine Partei sich für Letztere entschieden. Hätte Volt gegen einen Eintritt in die Gruppe votiert, wäre Damian zurückgetreten, meint er. Denn dann hätte er wie andere Einzelabgeordnete nur Däumchen drehen können: Ohne Gruppe keine Macht und damit auch keine Veränderung. Zahlreiche Gesetze, die in Deutschland gelten, haben ihre Grundlage in Brüssel. EU-Abgeordnete können also einiges mitbestimmen – wenn sie denn wollen.
Und Damian will.
In fünf Ausschüssen sitzt der Volt-Abgeordnete durch die Grünen. Er verhandelt als Ausschussmitglied Verfassungsfragen. Als Stellvertreter außerdem Asyl- und Migrationspolitik, den Haushalt, Wirtschaft und Belange von Industrie und Energie. Und das nicht nur mit einer Volt-Stimme, sondern mit den 71 Stimmen seiner Fraktion. Entsprechend muss er auch im Sinne seiner Gruppe verhandeln und kann nicht eiskalt Volt-Politik durchdrücken, sagt er.
So locker der Volt-Abgeordnete im Alltag wirkt, so hart kann er um Positionen streiten. Regelmäßig schleudert er seinen Mitverhandelnden "This makes zero sense" entgegen. Das "zero" spricht er aus, als stünde dahinter ein Ausrufezeichen.
Alltag zwischen Schattenberichterstatter-Treffen und EU-Gesetzgebung
Neben den verschiedenen Ausschussposten ist Damian Teil von sogenannten Schattenberichterstatter:innen-Treffen. Das klingt illegal, ist aber ein fester Teil des EU-Parlamentes. Diese Treffen gehören zum Gesetzgebungsprozess dazu. Es handelt sich dabei um Gruppen, die sich aus den Ausschüssen heraus bilden und über ein bestimmtes Gesetz – zum Beispiel GEAS – verhandeln. Dabei ist jeweils ein:e Abgeordnete:r für jede parlamentarische Gruppe anwesend.
Eine:r von ihnen ist Berichterstatter:in und somit in den sogenannten Trilog-Verhandlungen dafür zuständig, die Position des Parlamentes gegen die Position des EU-Rates zu verteidigen und einen Konsens zu finden. In den Schattenberichterstatter:innen-Treffen wird sich auf ebendiese Position des Parlaments verständigt: Dort werden die roten Linien gezogen und die gemeinsame Baseline herausgearbeitet.
Als (Schatten-) Berichterstatter sitzt Damian auch regelmäßig in Meetings, die die EU-Gesetzgebung beeinflussen.bild: watson/rebecca sawicki
Auch Damian war bereits Berichterstatter und somit federführend an Trilog-Verhandlungen beteiligt. In diesen Vorverhandlungen geht es darum, die jeweiligen Positionen abzugleichen und über diese zu streiten. Am Ende soll es zu einem schnelleren Ergebnis und einem für alle Seiten abnickbaren Gesetz kommen.
Währenddessen versucht Damian zudem Fürsprecher:innen etwa im Rat – also innerhalb der Regierungen der Mitgliedsländer– für seine Position zu finden. Einen Lobbyisten könnte man ihn nennen.
Ein Boss, der keiner sein will
Merkt er, die Verhandlungen könnten schwierig werden, überlegt er sich, wen er überzeugen muss. Wer sich für seine Position einsetzen könnte. Nur: Wie an die Person rankommen? Als Abgeordneter einer Kleinstpartei ist Damian hier oftmals auf Kontakte von Menschen angewiesen, mit denen er vertrauensvoll zusammenarbeitet, die aber einer anderen Partei angehören. Anrufe, die ihm sichtlich schwerfallen,
"Mach jetzt einfach", redet ihm seine Mitarbeiterin Kamilla gut zu. Damian grinst, verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse und ruft an. "Hi, hast du Kontakt zu Nancy Faeser?", fragt er. Einen direkten Kontakt gibt es zwar nicht, aber über eine Ecke könnte Damians Appell bei der richtigen Person ankommen. Damian wirkt erleichtert, den Anruf hinter sich zu haben. Dennoch ist er angespannt – ohne den Kontakt, meint er, dürfte es schwierig werden, andere Mitgliedsländer von seiner Position zu überzeugen.
Manche Anrufe fallen Damian sichtlich schwer.Bild: watson / rebecca sawicki
Anders als andere Abgeordnete hat Damian sein Team nicht im Parteikosmos gecastet oder aus Deutschland mitgebracht. Er wollte ganz einfach die besten für den Job finden –und hat die Stellen so offen ausgeschrieben.
Den Boss will er nicht raushängen lassen, meint er. Stattdessen ist die Atmosphäre im Büro Boeselager wuselig-familiär. Das Team macht Späße miteinander und auch Damian, der viel Zeit damit verbringt, von A nach B zu rennen und dabei immer wieder etwas verpeilt wirkt, ist sich nicht zu schade, über sich selbst zu lachen. Zum Beispiel, wenn ihm seine Kommunikationschefin Cova verbietet, seinen löchrigen Lieblingspulli im TV-Interview zu tragen. Ein kurzes Aufbäumen, der Rolli sei von seiner Partnerin – doch dann gibt Damian lachend klein bei.
Lobbyismus innerhalb des Parlaments
Nicht nur Damian und sein Team versuchen im Parlament zu lobbyieren und andere Entscheider:innen auf ihre Seite zu ziehen. Auch der Volt-Politiker selbst ist ein Abgeordneter, auf dessen Unterstützung andere bauen. Und so kommt es, dass Damian kaum den dritten Stock betreten kann, ohne dass Menschen auf ihn zukommen. Er befindet sich mitten in der Herzkammer der EU, die alle Gebäude miteinander verbindet.
Gespräche dauern in Brüssel von Aufzugtür bis Aufzugtür. "Mach mit oder geh unter", sagt Damian dazu. Die Zeit im Parlament ist rar. Die Wochen, die die Parlamentarier:innen in Brüssel verbringen, sind gefüllt mit Meetings – offiziellen und inoffiziellen. Denn auch mit seinen Mitarbeiter:innen oder Unterstützer:innen muss sich Damian zusammensetzen, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Zu seinen Herzensprojekten zählt der EU-Data-Act, der die Weiterverarbeitung von nicht-personenbezogenen Industriedaten regelt, oder auch der von ihm initiierte EU-Talent-Pool. Die Idee dahinter: Menschen aus Drittstaaten sollen wie bei Tinder mit europäischen Arbeitgeber:innen zusammengebracht werden.
Worauf er außerdem stolz ist: Damian hat ein neues EU-Wahlrecht mitverhandelt. Stimmen die Mitgliedsstaaten zu, dürfen bald 16-Jährige europaweit an den EU-Wahlen teilnehmen. Was er noch vorhat: Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, damit die EU demokratischer wird.
"Wenn alles gut wäre, wäre ich nicht mehr hier", sagt Damian. Wo er wäre, wäre er nicht EU-Abgeordneter, weiß er nicht genau. "Vielleicht in der Logistik der Welthungerhilfe oder von Flüchtlingslagern", überlegt er. Er könne sich aber auch gut vorstellen zurück in die Wirtschaft zu gehen oder zu gründen.