Ein Mann schwenkt die EU-Fahne vor einem dunklen Meer aus Polizist:innen in Georgien.Bild: IMAGO/ITAR-TASS / Mikhail Yegikov
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Eine Frau steht mitten auf der Straße. Hinter ihr versammeln sich Menschen. Stimmen aus Lautsprechern übertönen Schreie und Pfiffe. Ein Wasserstrahl peitscht über den Asphalt. Die Polizei zielt direkt auf die Demonstrierenden. Eine Person hält dem Druck besonders stand: Eben jene Frau, die dabei die blaue Sternen-Flagge der Europäischen Union schwenkt.
Eine Szene aus Georgien. "Auf so vielen Ebenen ikonisch", schreibt Politikwissenschaftler Carlo-Antonio Masala auf Twitter. Es strahle Hoffnung und zugleich Gefahr aus. Denn einerseits hat das osteuropäische Land einen Antrag auf den EU-Beitritt im März 2022 gestellt, anderseits zeigt die Regierung eine gefährliche Nähe zu Moskau.
Doch von vorn: Was ist passiert? Woher stammt die Wut der Bevölkerung und wie geht es weiter? Dazu hat sich watson mit Georgien-Experte Denis Cenusa vom Zentrum für Osteuropastudien (EWSA) und mit FDP-Politiker Phil Hackemann unterhalten.
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Was ist passiert?
Auslöser der Proteste war ein Gesetzesvorhaben der georgischen Regierung gegen "ausländische Agenten". Es sieht vor, dass Organisationen, die sich zu mehr als 20 Prozent mit Geldern aus dem Ausland finanzieren, als sogenannte ausländische Agenten registrieren lassen müssen. Anderenfalls drohen ihnen Strafen.
Als Antwort auf das Vorhaben der Regierung versammelten sich tausende Menschen mit Flaggen Georgiens und der EU unter anderem vor dem Parlament in der Hauptstadt Tiflis. Es kam zu massiven Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei, die Wasserwerfer und Tränengas einsetzte.
Mittlerweile hat Georgiens Regierung angekündigt, das geplante "Agenten-Gesetz" aufzugeben. "Als Regierungspartei, die für jedes Mitglied der Gesellschaft verantwortlich ist, haben wir entschieden, dieses von uns unterstützte Gesetz bedingungslos zurückzuziehen", erklärt die Partei Georgischer Traum auf ihrer Internetseite.
Das Gesetz sei "in einem schlechten Licht und auf irreführende Weise" dargestellt worden, hieß es. Die Absicht hinter dem Vorhaben müsse "besser erklärt" werden.
Warum löste das Gesetz solch eine Wut aus?
Bei dem "Agenten-Gesetz" geht es laut Georgien-Experte Cenusa um Kontrolle: Die Regierung will die Zivilgesellschaft und Medien, die an westlich finanzierten Projekten arbeiten, in Schach halten. Dazu wollten sie ihnen den Geldhahn zudrehen. Dieses Vorhaben erinnert an ein Gesetz, das 2012 in Russland eingeführt wurde.
Cenusa zufolge will die georgische Regierung, oppositionelle Stimmen an den Rand drängen und greift dabei auf politische Praktiken Russlands zurück. "Damit will sie die Opposition zum Schweigen bringen und im Dialog mit der EU das notwendige Narrativ gestalten", sagt der Experte.
Gespenstig: Eine schwarze Wand an Sicherheitsleuten stellt sich gegen die Demonstrierenden in Georgien.Bild: IMAGO/ITAR-TASS / Mikhail Yegikov
"Auf diese Weise wurde in Russland systematisch die freie Presse unterdrückt, die Opposition ausgeschaltet und selbst Menschenrechtsorganisationen verboten", sagt FDP-Politiker Hackemann. Er ist Vorsitzender des Landesfachausschusses für Außen- und Europapolitik in Bayern. Die georgische Zivilgesellschaft und vor allem die Opposition seien in den vergangenen Jahren wieder mehr unter Druck geraten; wobei auch eine Beteiligung Russlands im Hintergrund vermutet werde. Er sagt:
"So gibt es etwa Berichte, dass Georgiens Ex-Präsident Micheil Saakaschwili, welcher derzeit inhaftiert ist, im Gefängnis vergiftet wurde. Umso erschreckender ist nun die Gewalt, mit der die Proteste in Tiflis offenbar niedergeschlagen wurden."
Laut Hackemann hat Regierungschef Irakli Garibashvili faktisch gedroht, die Tür zur EU-Mitgliedschaft zu verschließen. Das habe auch die Europäische Kommission verdeutlicht. Denn: Das "Agenten-Gesetz" war nicht mit den rechtsstaatlichen Werten der EU vereinbar. "Daher ist es begrüßenswert, dass die Regierung den Gesetzentwurf vorerst zurückgezogen hat", meint Hackemann. Nicht zuletzt aufgrund des Widerstands, wie von dieser Frau, die zur Ikone wurde.
Wie sollte die EU weiter reagieren?
Für Hackemann steht fest: Die EU muss sich an die Seite der georgischen Bevölkerung stellen. "Wir müssen weiter darauf hinwirken, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleiben", meint er. Dann bleibe für Georgien auch die Tür zur EU offen.
EU vs. Russland – Wie steht es um Georgiens politische Gesinnung?
Die regierende Partei Georgischer Traum bekennt sich formell zum Ziel des EU-Beitritts. "Es ist ein offizielles Staatsziel, das in der Verfassung verankert ist", sagt Hackemann. In jüngster Zeit nährten aber mehrere Maßnahmen der Regierung die Befürchtungen: Georgien könnte sich unter Garibashvili Russland zuwenden. Dieser spricht von einer "ausgewogenen" Politik, die für "Frieden und Stabilität" sorgen soll. Dennoch erwägt er ein solches anti-demokratisches Gesetz.
Laut Cenusa steht es um die derzeitige politische Lage im Land schlecht. Er sagt:
"Die Bevölkerung fühlt sich unterrepräsentiert sowohl von der russlandfreundlichen Regierungspartei als auch von der Oppositionspartei. Durch die Proteste könnten neue Protestführer auftauchen, und effektiv von den regierungsfeindlichen Unruhen in Tiflis und anderen großen georgischen Städten profitieren."
Hackemann zufolge zeigt die georgische Bevölkerung deutlich: Sie steht für Freiheit und gegen Autoritarismus, für Europa und gegen Russland. Genauso wie die Ukrainer:innen wollen sie kein Vasallenstaat Russlands sein, sondern ein freier und unabhängiger Teil der europäischen Familie, meint er. Ein Wunsch und Kampf, der Menschen aus Georgien und der Ukraine zusammenschweißt.
Georgien, Ukraine, Moldau – vereint durch den EU-Traum
Im Zuge der Proteste vor dem georgischen Parlament ertönten drei Hymnen: die georgische, europäische und ukrainische. Das zeigt etwa ein Video von der Journalistin Mariam Nikuradze auf Twitter. Zwei Völker, ein Wunsch: Beitritt in die EU. Die Ukrainer:innen stellten sich an die Seite der Demonstrierenden in Georgien – ganz vorne dabei ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Laut der Journalistin Katie Shoshiashvili hat sich Selenskyj für das Spielen der ukrainische Hymne auf den Straßen Georgiens bedankt. Er bekunde sein Respekt vor dem georgischen Volk und wünsche ihm Erfolg.
"Wir wollen der Europäischen Union angehören, und das werden wir auch", sagt er in seiner Videoansprache. "Wir wollen, dass Georgien der Europäischen Union angehört, und ich bin sicher, dass es das tun wird." Das Gleiche gelte für die Republik Moldau. "Alle freien Völker Europas haben dies verdient."
"Nicht zufällig erhebt sich derzeit ein Flaggenmeer aus Europafahnen auf den Straßen von Tiflis", meint Hackemann. Denn die EU stehe für diese Menschen für Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Der FDP-Politiker sagt:
"Die Georgier:innen kämpfen dafür, Teil unseres freien Europas sein zu dürfen – in der Ukraine sterben sie sogar in den Schützengräben für diesen Traum. Das zeigt uns, wie wertvoll Europa ist. Vor allem jenen, die diese Errungenschaften bereits als selbstverständlich abtun."
Während der Proteste schwenkten mehrere Menschen die EU-Fahne. Bild: IMAGO/ITAR-TASS / Mikhail Yegikov
Wie geht es weiter?
Diese Unruhen werden nicht spurlos vorbeigehen. "Solche Proteste hat es seit etwa einem Jahrzehnt nicht mehr gegeben", sagt Cenusa. Das Besondere sei, dass sie nicht von den Oppositionsparteien organisiert wurden. Es waren zivilgesellschaftliche Organisationen und Journalist:innen, die zum Widerstand aufriefen.
Laut Cenusa habe sich dieser Widerstand in der ganzen Gesellschaft ausgebreitet. Die Bevölkerung habe den Mut bewiesen, sich gegen ihre Regierung zu stellen. Das zeigen Cenusa zufolge die neuesten Umfragen: Nur ein Viertel der georgischen Bevölkerung stehe hinter dem Garibashvili-Regime.
Georgiens Ministerpräsident Irakli Garibashvili wird eine Nähe zu Russland nachgesagt.Bild: dpa / Bernd von Jutrczenka
Nach diesen massiven Protesten wird sich die Führung Georgiens wohl in Zukunft zweimal überlegen, ein solch autoritären Schachzug zu unternehmen. Denn Fakt ist: Die Mehrheit der Georgier:innen will ihr Land in die EU und Nato führen – auch wenn es dem großen Nachbarn Russland nicht passt.
(mit Material von AFP)