An der Grenze der Europäischen Union spielt sich erneut ein Drama um Leben und Tod ab. Tausende Migrantinnen und Migranten – Männer, Frauen und Kinder – warten bei eisigen Temperaturen an der Grenzen zwischen Polen und Belarus. Sie hoffen darauf, über die polnische Grenze zu kommen und damit in die EU einzureisen.
Weinende Kinder, die nachts bei Minusgraden frieren. Menschen in Zelten an Lagerfeuern. Verzweifelte Verletzte. Das sind die Bilder, die aus dem Gebiet in die Welt gesendet werden.
Was passiert gerade zwischen Belarus und Polen? Warum geschieht es gerade jetzt? Und was kann getan werden, um das Leid der Menschen dort zu beenden?
Wichtige Fragen und Antworten im Überblick.
Im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen sitzen derzeit tausende Migranten bei eisigen Temperaturen fest.
Die belarussischen Behörden werfen den polnischen Grenzschützern seit Tagen Gewalt gegen die Schutzsuchenden vor, die in der Nacht zu Mittwoch in zwei Gruppen Stacheldrahtzäune eingerissen haben sollen, um die Grenze zu überqueren. Fotos und Videos, die belarussische Behörden veröffentlichten, zeigen nach Belarus zurückgedrängte Menschen mit Schnittwunden an Händen und Armen.
Einige Menschen seien auch geschlagen worden, behauptet das Staatsfernsehen in Minsk. Vorwürfe der Gewalt gibt es aber auch gegen belarussische Sicherheitskräfte. Das polnische Verteidigungsministerium veröffentlichte ein Video, auf dem ein Schuss von belarussischer Seite zu hören sein soll. Lukaschenkos Truppen haben den Ruf, niemanden zurück ins Land zu lassen – nur nach Polen.
Überprüfbar sind die gegenseitigen Anschuldigungen kaum. Weder die polnischen noch die belarussischen Behörden lassen unabhängige Journalisten an die Grenze.
So widersprüchlich die Darstellungen sind, in einem stimmen alle überein: in dem waldreichen Gebiet gibt es eine handfeste humanitäre Katastrophe. Tausende Migranten sind zum Spielball eines politischen Machtkampfs geworden: zwischen dem belarussischen Regierungschef Aleksander Lukaschenko und der EU. Es geht um die Frage, ob die Migranten durchgelassen werden. Polen lehnt das ab und treibt die Migranten, die den Durchbruch schaffen, zurück nach Belarus.
Viele der Menschen wollen nach Deutschland. Es kursieren Videos, auf denen Gruppen von Menschen aus dem Grenzgebiet rufen, dass sie dorthin möchten.
Hunderte Menschen sind in den vergangenen Tagen schon über Belarus nach Deutschland gekommen. Seit Anfang November registrierte die Bundespolizei insgesamt 1246 unerlaubte Einreisen mit Bezug auf Belarus, wie die Behörde am Mittwoch mitteilte. Seit Jahresbeginn waren es inzwischen 9087.
Ein großer Teil der Menschen, die jetzt zwischen Belarus und Polen ausharren, soll aus einer autonomen Kurdenregion im Nordirak stammen. Der Teilstaat präsentiert sich zwar nach außen als stabile Region, aber Menschenrechtsaktivisten werfen der Regierung dort regelmäßig Verstöße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung vor. Allein in den vergangenen drei Monaten haben 3000 Kurden die Region verlassen, mehr als die Hälfte von ihnen sind nach Angaben der Organisation Kurdistan Refugee Association mit Touristenvisa nach Belarus eingereist.
Der belarussische Honorarkonsul in Erbil, Fuad Mamend, sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass die Konsulate in Erbil und Bagdad "auf Wunsch der irakischen Regierung für eine Woche geschlossen" worden seien. Erbil ist der Name der Hauptstadt dieser autonomen Region. Touristenvisa und Flugtickets erhalten die Menschen demnach in Reisebüros.
Die EU wirft dem belarussischen Machthaber Lukaschenko vor, absichtlich Migranten aus dem Nahen Osten in die EU-Staaten Lettland, Litauen und Polen zu schleusen. Lukaschenko wolle dadurch Vergeltung üben für die Sanktionen, die die EU gegen Belarus verhängt hat – als Reaktion auf die gewaltsame Unterdrückung der Proteste gegen Lukaschenkos Wiederwahl im August 2020. Die Wahl war nach Ansicht fast aller internationalen Beobachter gefälscht. Die EU erkennt Lukaschenko seither nicht mehr als Staatschef an.
Die Spannungen zwischen Belarus und der EU waren schon im Mai eskaliert: Damals hatte die belarussische Luftwaffe ein über das Land fliegendes Flugzeug der Fluglinie Ryanair zur Landung in der Hauptstadt Minsk gezwungen – und den an Bord befindlichen regierungskritischen Aktivisten Roman Protassewitsch verhaftet.
Nils Schmid, SPD-Bundestagsabgeordneter und Experte für Außenpolitik, weist gegenüber watson Lukaschenko die Hauptschuld am Drama an der Grenze zwischen Belarus und Polen zu – und vermutet eine Mitverantwortung beim russischen Präsidenten Wladimir Putin. Russland und Belarus sind verbündet, Putin und Lukaschenko treffen sich regelmäßig. Schmid erklärt:
Die Bundestagsabeordnete und Linken-Außenpolitikerin Żaklin Nastić erklärt auf die Frage nach der Verantwortung für die Lage gegenüber watson, es sei "natürlich völlig falsch, Schutzsuchende, die ihre Heimat wegen Krieg und Gewalt verlassen mussten, mit falschen Versprechungen an die polnisch-belarussische Grenze zu locken."
Nastić sieht indes eine Mitschuld bei der polnischen Regierung. Statt den frierenden Menschen im Grenzgebiet zu helfen, habe sie "massiv aufgerüstet." Warschau, meint Nastić weiter, "geht gewaltsam gegen Geflüchtete vor, hat den Ausnahmezustand verhängt und verweigert Hilfs- und Ärzteorganisationen den Zugang zum Grenzgebiet." Auch die EU und die geschäftsführende Bundesregierung trügen eine Mitschuld an der Lage. Beide, erklärt Nastić, „drehen täglich an der Eskalationsspirale: Horst Seehofer befürwortet explizit den Bau einer Mauer, die EU hat neue Sanktionen gegen Belarus verhängt, weitere werden gefordert."
Der geschäftsführende Bundesinnenminister Seehofer hatte am Mittwoch erklärt: "Die EU-Kommission muss Polen bei der Sicherung der EU-Außengrenze unterstützen und die nötigen Mittel für die Errichtung eines robusten Grenzzaunes bereitstellen."
Stephan Thomae, migrationspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und stellvertretender Fraktionsvorsitzender, bezeichnet Lukaschenkos Verhalten gegenüber watson als "Schleuseraktivitäten und Erpressungsversuche". Die Grünen-Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck schreiben in einer gemeinsamen Erklärung, verantwortlich für die Lage sei das "zynische Vorgehen des belarussischen Diktators Lukaschenko, der mit Billigung von Wladimir Putin Menschen als Spielball in seinem Kampf gegen die EU instrumentalisiert."
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am Mittwoch den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Vermittlung gebeten. Die Bundeskanzlerin habe Putin in einem Telefonat gebeten, "auf das Regime in Minsk einzuwirken", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch. Merkel habe in dem Gespräch unterstrichen, "dass die Instrumentalisierung von Migranten gegen die Europäische Union durch das belarussische Regime unmenschlich und vollkommen inakzeptabel sei".
Aus unterschiedlichen Richtungen kommen Forderungen, dem belarussischen Machthaber Lukaschenko nicht nachzugeben. Der Vizechef der CDU und baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl hat in diesem Zusammenhang vor der Aufnahme von Flüchtlingen von der belarussisch-polnischen Grenze gewarnt. Strobl sagte der "Funke"-Mediengruppe, wer jetzt nicht für sichere Außengrenzen sorge oder gar ein Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge an der polnisch-belarussische Grenze fordere, unterstütze die falschen und irreführenden Versprechungen Alexander Lukaschenkos und mache sich selbst zum Schlepper des belarussischen Regimes.
Die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja forderte die EU auf, hart gegenüber Lukaschenko zu bleiben. „Das ist ein klarer Erpressungsversuch, dem die EU nicht nachgeben darf“, sagte Tichanowskaja dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Lukaschenko verwende die Migranten als "Kanonenfutter". Es helfe nicht weiter, wenn manche Menschenrechtler in der EU Kritik an Polen wegen der Behandlung der Migranten üben“, meinte Tichanowskaja und ergänzte: "Für mich ist das zynisch.“ Dieselben Organisationen würden schweigen, wenn es um die Menschenrechtsverletzungen des Lukaschenko-Regimes gehe.
FDP-Politiker Thomae pflichtet Tichanowskaja bei. Er erklärte gegenüber watson:
SPD-Außenpolitiker Schmid sieht das Verhalten der polnischen Behörden kritisch. Gegenüber watson erklärte er: "Klar ist auch, dass wir illegale Pushbacks von Geflüchteten verurteilen und sich unsere Partner in Polen an internationales Recht zum Schutz von Geflüchteten halten müssen." Er sprach sich außerdem für "schnelle humanitäre Hilfsleistungen für die Menschen in Not" aus. Schmid forderte andererseits "Strafmaßnahmen gegenüber denjenigen, die sich unmittelbar an Lukaschenkos menschenverachtenden Schleusermethoden beteiligen".
Linken-Außenpolitikerin Nastic schlägt einen ganz anderen Ton in Richtung Lukaschenko an. Sie erklärte gegenüber watson: "Es braucht einen sofortigen Dialog mit Minsk. Allein wegen der Menschen, die seit Wochen zum Spielball politischer Machtspiele gemacht werden, ist Deeskalation dringend geboten."
(mit Material von dpa und AFP)