Ein Abzug, der an keine weiteren Bedingungen geknüpft ist: US-Präsident Joe Biden geht in Afghanistan einen Weg, den viele fürchten und der auch für Deutschland und die anderen Nato-Partner weitreichende Konsequenzen hat. Kann verhindert werden, dass der Tod von Tausenden Nato-Soldaten nicht völlig umsonst war?
Wir haben für euch die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:
Nach Angaben aus der US-Regierung hat Biden einen Abzug aller US-Soldaten bis spätestens zum 11. September beschlossen. Beginnen soll er noch vor dem 1. Mai. Die Regierung von Biden-Vorgänger Donald Trump hatte im vergangenen Jahr in Doha im Golf-Emirat Katar mit den Taliban vereinbart, dass bis zum 1. Mai alle internationalen Truppen Afghanistan verlassen werden. Ein US-Regierungsvertreter begründete den späteren Termin am Dienstag damit, dass ein überhasteter Abzug die internationalen Truppen gefährden könnte.
Biden hat versprochen, "die ewigen Kriege in Afghanistan und im Nahen Osten zu beenden" - in keinen Krieg waren die USA länger verstrickt als in den am Hindukusch. Bereits Biden-Vorgänger Donald Trump hatte ein solches Versprechen abgegeben, es aber nicht halten können. Für Biden ist es eine seiner bislang heikelsten Entscheidungen: Experten warnen, dass Afghanistan bei einem verfrühten Abzug wieder in einen Bürgerkrieg abgleiten könnte. Die US-Regierung argumentiert, das Ziel, dass Afghanistan Terroristen nicht mehr als Zufluchtsort diene, sei erreicht worden. Die internen Konflikte Afghanistans könnten aber nicht von ausländischen Soldaten gelöst werden.
Der US-Abzug ist gleichbedeutend mit dem Ende des Afghanistan-Einsatzes der Nato. Deutschland und die anderen Alliierten und Partnerstaaten sind nicht bereit und wohl auch nicht in der Lage, das Engagement ohne die USA fortzuführen. Die Amerikaner sorgen zum Beispiel dafür, dass verletzte Soldaten schnell in Sicherheit gebracht und versorgt werden können. Zudem stellen die USA wichtige Aufklärungsgeräte und Kampfflugzeuge, die bei Angriffen auf Nato-Soldaten schnell eingreifen können. Ohne diese Kräfte wären ausländische Soldaten in Afghanistan deutlich stärker gefährdet. Dieses Risiko will niemand eingehen.
Das ist ein hoch symbolisches Datum: Dann jähren sich die Terroranschläge von New York und Washington zum 20. Mal, die Auslöser des US-geführten Militäreinsatzes in Afghanistan waren und dem Terrornetz Al-Kaida zugeschrieben wurden. Der Krieg begann im Oktober 2001. Bald darauf stürzte das Taliban-Regime, das sich geweigert hatte, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden auszuliefern. Bin Laden wurde im Mai 2011 von einem US-Spezialkommando in Pakistan getötet.
Als ein Horrorszenario gilt, dass die Taliban nach einem Abzug mit Waffengewalt die Macht in Afghanistan übernehmen könnten. Für die junge Demokratie würde eine solche Entwicklung vermutlich das Aus bedeuten. Zudem dürfte es dann zu Rückschritten bei Frauenrechten und Meinungs- und Medienfreiheit kommen. Der US-Regierungsvertreter kündigte an, die USA würden gemeinsam mit der Internationalen Gemeinschaft alles unternehmen, um diese Errungenschaften zu schützen. "Aber unsere Ansicht ist, dass dies durch aggressive diplomatische, humanitäre und wirtschaftliche Maßnahmen geschehen muss, nicht durch die Fortsetzung des US-Krieges in Afghanistan."
Die US-Regierung argumentiert, dass ein Abzug, der an Bedingungen geknüpft ist, letztlich dazu führt, dass die Truppen doch im Land bleiben. Der Regierungsvertreter sagte: "Der Präsident hat entschieden, dass ein auf Bedingungen basierender Ansatz, der der Ansatz der vergangenen zwei Jahrzehnte war, ein Rezept für einen ewigen Verbleib in Afghanistan ist."
Außenminister Heiko Maas wollte das Ende des Nato-Einsatzes eigentlich vom Erfolg der Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul abhängig machen. "Wir wollen nicht durch einen zu frühzeitigen Abzug aus Afghanistan riskieren, dass die Taliban zurückkehren zur Gewalt und versuchen, mit militärischen Mitteln an die Macht zu kommen", erklärte der SPD-Politiker im März bei einem Nato-Treffen in Brüssel. Deutschland sei in Afghanistan unter anderen mit mehr als 1000 Soldatinnen und Soldaten engagiert und habe das Ziel, das Land nach rund zwei Jahrzehnten Einsatz nicht so zu hinterlassen, wie man es vorgefunden habe.
Die jetzt getroffene US-Entscheidung dürfte daher deswegen nicht im Sinne des Auswärtiges Amtes sein. Etwas anders sieht es im Verteidigungsministerium aus. Dort gibt es viele, die den Abzug begrüßen dürften.
Zuletzt waren noch rund 10 000 Soldaten aus Nato-Ländern und Partnernationen in Afghanistan, um die demokratisch gewählte Regierung durch die Ausbildung und Beratung von Sicherheitskräften zu unterstützen. Unter ihnen sind auch rund 1000 deutsche Soldaten. Bislang ließen 59 deutsche Soldaten in dem Land ihr Leben - die meisten davon fielen in Gefechten oder bei Anschlägen. Mehr als 2300 US-Soldaten starben in Afghanistan, rund 1900 davon gewaltsam.
Seit September laufen Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban in Doha. Allerdings sind die Verhandlungsteams über Verfahrensfragen bisher nicht hinausgekommen. Die USA versuchen, den Prozess mit mehreren Initiativen zu beschleunigen. Eine davon ist eine Afghanistan-Konferenz in Istanbul, die am 24. April beginnen soll. Als Reaktion auf die neuen Pläne der USA schlossen die Taliban am Dienstag ihre Teilnahme an der Konferenz aber aus. Sie erklärten, an solchen Treffen erst nach einem vollständigen Abzug der internationalen Truppen teilzunehmen.
Vor allem die afghanischen Spezialkräfte und die Luftwaffe haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Allerdings gibt es weiterhin in vielen Bereichen Defizite. Afghanische Militärs und Sicherheitsbeamte sind insgesamt zuversichtlich, die jetzt von der Regierung kontrollierten Gebiete halten zu können - solange die afghanische Armee, Polizei und der Geheimdienst zumindest finanziell weiter vom Ausland unterstützt werden.
Etwas anders sehen das die ausländischen Partner, die die Streitkräfte in den vergangenen Jahren ausgebildet haben. Nach Einschätzung des Bundesverteidigungsministeriums sind die afghanischen Sicherheitskräfte "trotz aller Anstrengungen weiterhin noch nicht selbsttragend in der Lage, flächendeckend für Sicherheit zu sorgen". In dem vor wenigen Tagen veröffentlichten Jahresbericht der US-Geheimdienste zur allgemeinen Bedrohungslage hieß es, der afghanischen Regierung werde es ohne ausländische Truppen schwerfallen, "die Taliban in Schach zu halten". Die Taliban würden wahrscheinlich militärische Siege erzielen.
Seit Abschluss des Abkommens in Doha im Februar vergangenen Jahres haben die USA und die Taliban einander nicht mehr in Offensiv-Operationen angegriffen. Kein ausländischer Soldat kam seither in Afghanistan bei Kampfhandlungen ums Leben. Anders allerdings sah es für die afghanischen Regierungskräfte und Zivilisten aus. Hier blieb die Gewalt hoch, es änderte sich vor allem die Art der Gewalt. Griffen die Taliban früher in großen Städten mit massiven Autobomben und mehreren Kämpfern in oft stundenlang dauernden komplexen Attacken an, so setzten sie seit dem USA-Taliban-Abkommen auf Nadelstiche.
Praktisch täglich sind in den vergangenen Monaten in gezielten Tötungen Sicherheitskräfte, Regierungsvertreter, Journalisten und Zivilisten getötet worden. In den Provinzen griffen die Taliban vor allem mittelgroße Basen der Sicherheitskräfte an. Die Taliban sehen Gewalt als ihr wichtigstes Druckmittel.
(vdv/dpa)