Boykottaufrufe waren in deutschen Stadien im Vorfeld der Weltmeisterschaft weit verbreitet, international ergibt sich ein viel gemischteres Bild.Bild: IMAGO / Sportfoto Zink
WM 2022
07.12.2022, 10:3307.12.2022, 10:34
Die Einschaltquoten lagen zumindest zu Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar deutlich niedriger als bei vergangenen Turnieren. Der Bevölkerungsanteil, der die WM nicht verfolgt, liegt laut Experte Jürgen Mittag deutlich höher als bei den Weltmeisterschaften der letzten zwei Jahrzehnte.
Der Politikwissenschaftler arbeitet an der Deutschen Sporthochschule Köln. Viele Menschen boykottieren die Weltmeisterschaft im Golfstaat Katar, ganz unabhängig vom Sportlichen. Mittag sagt dazu:
"Es ist ein großer Unterschied, dass auch während der Fußballweltmeisterschaft zwar nicht mehr in gleichem Maße wie im Vorfeld, aber doch weiterhin in einem erheblichen Maße in Deutschland Kritik geübt wird. Das ist in der Tat ein Novum. Das hat es bei bisherigen Großereignissen eigentlich in der Form noch nicht gegeben."
Die Menschenrechtssituation im Land, die Vergabe der WM an den Persischen Golf und die Zustände, unter denen die WM-Stadien gebaut wurden, stößt vielen Menschen in Deutschland sauer auf. Doch wie sieht es in anderen Ländern aus?
Kritischer Blick auf WM in Katar aus Nord- und Mitteleuropa
In Deutschland zeigen viele Kneipen die Spiele nicht, wie das Magazin "Katapult" in einer Karte zusammengefasst hat. In Frankreich haben einige Städte das gemeinsame Fußballgucken auf großer Leinwand abgesagt: In Paris, Marseille oder Bordeaux haben die Kommunen kein Public Viewing organisiert. Auch in nordeuropäischen Ländern, in den Niederlanden, teilweise in Spanien, in England und Wales wird Katar als Ausrichter kritisch gesehen.
Wie sieht es außerhalb Europas aus?
Die Menschenrechtsverstöße des Emirats Katar stoßen auch in den USA auf Protest. Besondere Beachtung fand auch das politischste Spiel dieses Turniers: Die USA trafen im dritten Gruppenspiel auf das Team aus dem Iran. Einige sind noch immer sauer, dass die diesjährige WM bei der Vergabe im Jahr 2010 nicht an Amerika ging. Trösten können sich die Amerikaner:innen damit, dass die Fußball-WM der Männer 2026 in den USA, Kanada und Mexiko ausgetragen wird.
Dieser Fan trägt ein mexikanisches Fußballtrikot und die US-Flagge auf seinem Sombrero: zwei von drei Ausrichtern der WM in knapp vier Jahren.Bild: IMAGO / Ulmer/Teamfoto
Zu den Ländern, in denen am meisten Kritik an der laufenden WM ausgeübt wurde, gehört auch Australien. Die Socceroos haben vor Beginn der Endrunde ein Video veröffentlicht, in dem sie die Menschenrechtsverletzungen im Golfstaat kritisieren. Unter anderem thematisierte das Video die Lage der Arbeiter:innen und die Situation von queeren Menschen in Katar.
Brasilien schaut mit Hoffnung auf Weltmeister-Titel nach Katar
Ganz anders in Brasilien. Dort ist der Fußball traditionell emotional aufgeladen und im politisch gespaltenem Land ein einendes Element. Bei der Präsidentschaftswahl im Oktober versuchte der rechtsextreme Kandidat Jair Bolsonaro, mit dem Fußball Wähler:innen für sich zu gewinnen.
"Bolsonaro und seine Anhänger hatten die Landesflagge und auch die Fußballtrikots der Nationalmannschaft als Erkennungszeichen im Wahlkampf verwendet und so hatten viele Brasilianer Scheu, diese zu verwenden, um nicht mit Anhängern Bolsonaros verwechselt zu werden", sagt Anja Czymmeck.
"So ist auch von einer Verweigerung der Zuschauer oder gar einem Boykott nichts zu spüren."
Anja Czymmeck, Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien
Die Leiterin der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung sagt weiter:
"Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht daher weniger, wo die WM stattfindet. Stattdessen thematisieren die führenden Medien des Landes die Aufstellung der Nationalmannschaft, Spieltage, diskutieren die mögliche Taktik des Nationaltrainers und Reisemöglichkeiten zum Turnier."
Brasilianische Fans sind zahlreich zur WM nach Katar geflogen. Hier feuern sie ihr Team vor der Partie gegen Kamerun an.Bild: IMAGO / ZUMA Wire
Nur wenige Journalist:innen hätten die schlechten Arbeitsbedingungen für die Bauarbeiter scharf kritisiert. "Hier steht der Fußball im Vordergrund und die Aussicht auf den nächsten Weltmeistertitel. So ist auch von einer Verweigerung der Zuschauer oder gar einem Boykott nichts zu spüren", sagt Czymmeck.
Stattdessen blicke man verwundert auf die Europäer:innen: "So wird in brasilianischen Medien auch gerne über die Doppelmoral Deutschlands mit Blick auf Katar berichtet, das man in Fragen der Menschenrechte scharf kritisiert, aber gleichzeitig Energiepartnerschaften und Investitionsabkommen mit dem Land eingeht."
Geteiltes Bild in Asien: Zwischen Boykott und Begeisterung
In Asien werde die Weltmeisterschaft vor allem in Südkorea kritischer gesehen, in Japan hingegen nicht, meint Jürgen Mittag. In den Ländern, in denen die WM kritisiert werde, "stößt man in der Regel auch auf entsprechende Debatten in den Medien, aber auch auf Protestaktionen seitens der Bevölkerung, die bis zu Boykottaufrufen reichen." In der Summe sei das Bild sehr unterschiedlich. Während die einen der WM überaus distanziert gegenüberstünden, verfolgten die anderen das Ereignis "mit ungeteilter Begeisterung".
Doch warum ist das so? Jürgen Mittag macht eine Diskrepanz zwischen westlichen Staaten und den sogenannten BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – aus.
Diese Staaten, von denen viele in den vergangenen Jahrzehnten selbst solche Großereignisse ausgerichtet haben, weisen "zwar ein erhebliches wirtschaftliches Potenzial" auf, aber "dort besteht auch ein ganz anderes politisches System und eine ganz andere politische Kultur." Mittag führt dies aus:
"Fragen der Demokratie und Menschenrechte werden in diesen Staaten ganz anders gesehen und behandelt. Auch deswegen herrscht in diesen Ländern ein völlig anderes politisches Klima, ein anderes Verständnis gegenüber dieser WM."
Viele arabische Menschen sehen "arroganten" Westen
In den arabischen Ländern machen viele Menschen eine Doppelmoral aus: "Hier ist die Weltmeisterschaft wirklich ein herausragendes Ereignis. Und den Protest nehmen diese Länder durchaus mit einem gewissen Unverständnis wahr", meint der Politikwissenschaftler.
Selbst in den Ländern, die zuletzt Katar gegenüber nicht besonders freundlich gestimmt waren. Dort sei eine Solidarität mit Katar zu beobachten, "wenn es um westliche Kritik am Turnierausrichter geht, nicht zuletzt von Deutschland. Dass von deutscher Seite erheblicher Protest geäußert wurde, das versteht man nicht."
Fans von Saudi-Arabien beim Spiel ihrer Mannschaft gegen das polnische Team.Bild: IMAGO / Fotoarena
Der Experte führt weiter aus: "Es wird durchaus mit einem gewissen Unverständnis auf den 'arroganten' Westen geschaut." Das Stimmungsbild sei, trotz aller Spannungen und Gegensätze, recht deutlich und in großer Breite im arabischen Raum auszumachen:
"Man ist sehr stolz darauf, dass man nun endlich auch ein Sportgroßereignis dieses Formates austrägt und reklamiert das auch für sich und will sich das auch nicht schlecht- oder kleinreden lassen."
Mit großem Interesse seien die Erfolge Saudi-Arabiens vermerkt worden. Auch das Weiterkommen Marokkos ins Achtelfinale sei mit Sympathie quittiert worden. Der Wissenschaftler spricht von einer gewissen arabischen Solidarität, die vor allem in der Golfregion zum Ausdruck komme.
Er beobachtet ein "durchaus verändertes Selbstbewusstsein", sowohl auf die Fähigkeit, ein Großereignis wie die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten zu können, als auch "was das Geschehen auf dem Fußballplatz angeht."
Nach dem iranischen Raketenangriff auf sein Land hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu Vergeltung angekündigt. "Der Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht – und er wird dafür bezahlen", sagte Netanjahu nach Angaben seines Büros. Wann ein Vergeltungsschlag auf den Iran erfolgen könnte, blieb zunächst offen. Bereits in der Nacht zum Mittwoch griff Israel im Kampf gegen die proiranische Hisbollah-Miliz aber erneut die libanesische Hauptstadt Beirut an. Der Iran selbst warnte Israel indes vor einem Vergeltungsschlag und drohte seinerseits eine heftige weitere Reaktion an. Angesichts der eskalierenden Lage in Nahost soll der UN-Sicherheitsrat am Mittwoch zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.