17:50 Uhr, Stadthallenpark im Chemnitzer Stadtzentrum: Hier haben sich bereits hunderte
Gegendemonstranten versammelt. Sie wollen nach der rechtsextremen Gewalt des
Vortags gegen Neonazis und Rassismus protestieren – nur einen Katzensprung vom
Versammlungsort der Rechten entfernt.
Zur Gegendemo hatte auch die Chemnitzer Band "Kraftklub" aufgerufen, hunderte Demonstranten waren aus Leipzig und anderen Städten
angereist. Die Stimmung im Stadthallenpark ist zunächst gut. Nach den
hässlichen Szenen vom Sonntag wollen die Menschen hier zeigen, dass
Rechtsextremismus und Gewalt in Chemnitz nicht unwidersprochen bleiben.
Es geht dabei jedoch nicht nur um die Gewalt von rechts –
sondern auch um die Gewalttat, die der Auslöser der Proteste und Krawalle war.
In der Nacht zum Sonntag war ein 35-Jähriger in der Chemnitzer Innenstadt bei
einer Auseinandersetzung mit mehreren Männern tödlich mit einem Messer verletzt
worden. Für ihn halten die Demonstranten im Stadthallenpark eine Schweigeminute
ab.
Kurz darauf wird es jedoch laut: Drüben am
Karl-Marx-Monument, wo sich die Rechtsextremen sammeln, tut sich etwas. Einige
Gegendemonstranten rennen an den Rand des Parks, rufen den Rechten über Büsche,
Polizeifahrzeuge und die Straße Parolen zu. "Nazis raus" etwa, und "Es gibt
kein Recht auf Nazi-Propaganda". Von rechts schallt es zurück. "Merkel muss
weg", "Wir sind das Volk" und später immer wieder "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus".
Die Rechtsextremen auf der einen Seite, die
Gegendemonstranten auf der anderen. Dazwischen Polizisten, Journalisten und
sich vermischende Sprechchöre. So bleibt die Lage zunächst für eine ganze
Weile. Rund um den ikonischen Kopf des Kommunisten Karl Marx kocht die Stimmung
bei den Teilnehmern der rechtsextremen Kundgebung jedoch immer weiter hoch. Aus
Parolen werden zunehmend aggressive Pöbeleien. Nach einer Trauerkundgebung wirkt
hier nichts mehr.
Und hier die Szenen im Video:
Video: watson/Felix Huesmann, Lia Haubner
Gegen 18:45 Uhr
setzt sich dann auf einmal ein Teil der rechten Demonstranten in Bewegung –
ohne Absprache mit der Polizei. Hunderte drängen auf die Straße, die Polizisten
haben zunächst Mühe, sie zurückzudrängen. Wie ein betrunkener Fußball-Chor
rufen einige Rechtsextreme den Gegendemonstranten "Zeckenschweine" zu. Ein Mann
zeigt direkt vor den Augen der Polizisten den Hitlergruß. Die Polizei tut
nichts. Man habe keine einzelnen Personen aus der Demonstration gezogen, um die
Lage nicht eskalieren zu lassen, wird die Polizei später mitteilen. Die Szene
markiert den Beginn des erneuten Kontrollverlusts der Polizei.
Ein Zurück zu einer friedlichen Grundstimmung gibt es jetzt
nicht mehr. Die rechtsextremen Demonstranten werden mit jeder Minute
aggressiver. Immer wieder pöbeln einzelne von ihnen Journalisten an, werfen mit
wüsten Beleidigungen um sich. Die Organisatoren der Demo, die von der
rechtsextremen Gruppe "Pro Chemnitz" angemeldet wurde, versuchen zwischendurch
sogar noch, ihre Leute in Schach zu halten. Das hat jedoch keine Aussicht mehr
auf Erfolg.
Gegen 19:50 Uhr
eskaliert die Situation schließlich zum ersten Mal. Irgendein geworfener
Gegenstand macht den Anfang, dann fliegen Flaschen zwischen den Rechtsextremen
und den Gegendemonstranten am Rande des Parks hin und her. Dazwischen stehen
Polizisten und Journalisten. Einige der Neonazis hatten offenbar für diese
Situation vorgesorgt. Sie werfen mit Böllern und Bengalos. Die Polizei versucht
mühsam, die Rechtsextremen zurück zu drängen. Die beiden Wasserwerfer, die gut
hundert Meter entfernt geparkt waren, werden vorgefahren. Zum Einsatz kommen
sie jedoch den ganzen Abend über nicht.
Etwa eine Viertelstunde später setzt sich die rechtsextreme
Demo dann schließlich in Bewegung. Dabei rufen die Demonstranten lautstark "Wir
sind das Volk". Bereits auf den ersten Metern kommt es zu Gewalt. Aus der
Spitze der Demonstration stürmen Neonazis auf die Polizei zu, greifen Beamte
an, stellen sich in Boxer-Pose vor ihnen auf.
An den Seiten laufen Polizisten mit und begleiten die Demo,
die mittlerweile immer mehr zum Mob wird. Nach vorne haben die Rechtsextremen
jedoch fast freies Feld. Auch außerhalb der Demonstration können sich einzelne
Neonazis frei bewegen und bedrohen immer wieder Journalisten.
Die Polizei hat spätestens jetzt die Kontrolle über die
Situation verloren.
Der Einbruch der Dunkelheit
20:20 Uhr: Die
Stimmung rund um die Demonstration wird zunehmend beängstigender – und jetzt
wird es langsam dunkel. Vor einem Wohnhaus droht die Lage erneut zu
eskalieren.
Ein Böller explodiert vor dem Haus, es bleibt zunächst unklar, ob
er aus dem Haus oder auf das Haus geworfen wurde. Hinter einem der Fenster
befindet sich anscheinend ein Gegendemonstrant. Mehrere hundert Rechtsextreme
bleiben vor dem Haus stehen, skandieren minutenlang "Holt ihn raus!".
felix huesmann/watson
Schließlich zieht die Demonstration weiter. Das Geschehen
innerhalb der Demo zu dokumentieren wird dabei immer schwieriger. Die meisten
Journalisten laufen mittlerweile ein ganzes Stück vor den Demonstranten und
bewegen sich nicht aus der Sicht der wenigen Polizeibeamten.
Doch auch außerhalb der Demo wird die Lage zunehmend unübersichtlich.
Gruppen organisierter Neonazis beginnen, sich abzusetzen und sind fortan ohne
Polizeibegleitung unterwegs. Außerdem stoßen aus allen Richtungen immer wieder
einzelne Personen zur Demo hinzu.
Als die Demonstration am Tatort des Messerangriffs
vorbeizieht, werden dort erneut Journalisten bedroht und weggeschubst. Aus der
Masse hallt immer wieder "Lügenpresse, Lügenpresse".
Das völlige Chaos
21:00 Uhr: Die
Demonstration ist nach ihrer Runde um die Chemnitzer Innenstadt zurück am Karl-Marx-Monument
angelangt. Nach einigen Pöbeleien in Richtung der Gegendemonstranten, die hier
immer noch in den Seitenstraßen stehen, und dem Singen der Nationalhymne, wird
die Versammlung aufgelöst.
Das Chaos ist jedoch noch längst nicht vorbei. Die Tausenden
Teilnehmer der rechtsextremen Demo strömen jetzt in verschiedene Richtungen.
Die Polizei hat allerdings nicht einmal genug Kräfte, um die Demonstranten an
einem einzigen Ort in Schach zu halten.
Immer wieder kommt es zu Gerenne in den
umliegenden Straßen, die beiden Wasserwerfer werden hin und her gefahren. Für
Journalisten werden weite Teile der Chemnitzer Innenstadt jetzt endgültig zur
No-Go-Area.
Der Tag in Chemnitz in Bildern
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Der Tag in Chemnitz in Bildern
Bei den Protesten in der Chemnitzer Innenstadt seien Feuerwerkskörper und Gegenstände geworfen worden, hieß es bei der Polizei.
quelle: ap / jens meyer/ap
An vielen Orten sind keine Polizisten mehr zu sehen, die
Angriffe verhindern könnten. Ohne den Schutz der Beamten ist an ein
Weiterarbeiten kaum zu denken. Während immer mehr Journalisten deshalb die
Arbeit einstellen, kommt es offenbar zu weiteren Angriffen durch Neonazis.
Der Journalist Johannes Grunert berichtet um 21:38 Uhr,
dass eine große Gruppe von Neonazis abreisende Gegendemonstranten angreift.
Auch er wird attackiert. Ein Neonazi habe ihm das Handy aus der Hand
geschlagen, schreibt er.
Wenige Minuten später berichtet der Journalist Henrik Merker
dann von einem Überfall auf einen Punk. Neonazis hätten in einer Gasse
gelauert, der Mann blute.
In der Nacht beruhigt sich die Lage in Chemnitz schließlich.
Mittlerweile hat die sächsische Polizei sogar zugegeben, was Journalisten und
Beobachter ihr den Abend über bereits vorgeworfen hatten: Es waren viel zu
wenige Polizisten im Einsatz. Die Polizei hatte nur mit Hunderten, nicht
Tausenden Demonstranten gerechnet.
Bereits am Montagvormittag hatte der freie
Journalist und Szenekenner Johannes Grunert im watson-Interview gesagt: "Ich
denke, es ist nicht vermessen, dabei mit mehreren Tausend zu rechnen." Er sagte
auch: "Was die Polizei dagegen macht, steht natürlich in den Sternen, es ist
aber zu befürchten, dass die das – wenn auch auf einem anderen Niveau als
gestern – erneut unterschätzen." Er sollte mit beiden Prognosen recht behalten.