Kaum eine Stadt in der Ukraine steht so sehr für die Brutalität Russlands wie Mariupol. Sie Stadt am Asowschen Meer wurde zu einem Sinnbild des völkerrechtswidrigen Angriffs. Mit Beginn der Invasion hatten russische Streitkräfte die Stadt angegriffen; Zivilist:innen hatten deshalb Schutz in einem Theater gesucht. Doch die russischen Truppen bombardierten das Theater. Die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" spricht von einem Kriegsverbrechen.
Im Frühjahr 2022, wenige Wochen nach diesem Überfall, verkündete der Kreml die Einnahme der Hafenstadt. Bis heute hält Russland Mariupol annektiert. Laut russischen Angaben wurden 90 Prozent Mariupols zerstört und mindestens 20.000 Menschen getötet. Diese Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Wenig verwunderlich also, dass ein unkritischer Bericht des ZDF aus Mariupol Ende Januar 2024 einen Shitstorm auslöste. Und nicht nur in Deutschland findet der Beitrag Beachtung – offensichtlich wird er auch in Russland für die eigene Propaganda genutzt.
Für die Sendung "Seltener Blick in russische Besatzung" teilt ZDF-Korrespondent Armin Coerper seine Eindrücke aus der russisch-besetzten Stadt. Er spricht mit Menschen, die sich allesamt pro-russisch äußern. Deren geäußerte Meinung ist wenig verwunderlich, wie Kritiker:innen des Beitrages feststellen. Schließlich ist Mariupol eine von Russland besetzte Stadt, offen kritische Menschen könnten hier wohl kaum lange frei auf der Straße herumlaufen.
Coerper spricht auch mit Schauspieler:innen des Theaters, die berichten, sie könnten nun wieder russisch spielen – das sei ihnen in den vergangenen Jahren verboten gewesen. Und der Korrespondent beschreibt den Wiederaufbau der zerbombten Stadt. Seine Formulierung: "Die Stadt funktioniert." Alles in allem zeichnet er, so die Kritik, ein zu positives Bild. Der kritische Blick fehle.
Zu den Kritiker:innen des Beitrags gehört auch der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev. Er schreibt auf X, früher Twitter:
Mit rechtswidrig meint er wohl, dass die Einreise in das Staatsgebiet der Ukraine über russisches Gebiet nach ukrainischem Recht eine Straftat ist. Um aber nach Mariupol zu gelangen, braucht es eine russische Genehmigung – und Zugang ist nur von russischer Seite möglich. Auch hierfür wird das ZDF-Team, das eine russische Genehmigung hatte, kritisiert.
In Russland währenddessen wird der ZDF-Beitrag sehr positiv aufgenommen. Zahlreiche Medien nutzen die Aussagen Coerpers, um die russische Erzählung der Befreiung in der Ukraine lebender Russ:innen zu stützen. Der Kreml und Russlands Machthaber Wladimir Putin sprechen nämlich noch immer nicht von einem Krieg, sondern von einer Spezialoperation. Das Ziel: Die ukrainische Zivilbevölkerung und ethnische Russ:innen von einer angeblichen "Naziherrschaft" befreien.
So beschreibt etwa das Medium "Lenta", wie überrascht Coerper davon gewesen sei, dass die Stadt funktioniere. Und es zitiert ihn mit den Worten: "Es gibt Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind. Sie leben ihr Leben, und sie sind offen [für Kommunikation]." Hervorgehoben wird auch Coerpers Eindruck, dass die Bevölkerung in Mariupol pro-russisch eingestellt sei.
Ein Punkt, auf den auch "Ria Novosti" eingeht. Das Medium stellt außerdem den von Coerper beschriebenen Wiederaufbau Mariupols in den Mittelpunkt. Die russische Nachrichtenagentur Tass währenddessen geht auf die Kritik innerhalb Deutschlands ein, während die Vorgehensweise Coerpers als normal und von Russland unabhängig verdeutlicht wird. So wird suggeriert, es handele sich bei der Kritik um pro-westliche und anti-russische Propaganda.
Der Journalist Artur Weigandt postete auf X ein Video, auf dem zu sehen ist, wie viele russische Medien letztlich die ZDF-Recherche aufgegriffen haben. Dazu schreibt er: "Einen wunderschönen guten Morgen, nachdem Armin Coerper seinen Beitrag zu Mariupol geschildert hat, freut sich die russische Medienlandschaft ganz besonders über die Aufmerksamkeit aus Deutschland." Deutschland habe von russischem Journalismus keine Ahnung, gibt er zu bedenken.