Einmarsch in russisches Gebiet. Russen, die gegen Russen kämpfen. Marschflugkörper, Kampfhubschrauber, Raketenwerfer in Belgorod. Es wird wieder gekämpft.
Gleichzeitig meldet Moskau Drohnenangriffe.
Auf der von Russland annektierten ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim häufen sich Sabotageakte.
Schlägt das Volk jetzt zurück?
Russland führt seit mehr als 15 Monaten Krieg in seinem Nachbarland. Beliebt ist diese "Spezialoperation", wie es in Russland offiziell heißt, keineswegs. Doch handlungsfähigen Widerstand gab es bislang kaum.
Nun spielen sich Kämpfe auch auf russischem Boden ab: 35 Kilometer hinter der Grenze, in der Region um die Stadt Belgorod sind seit 1. Juni erneut die beiden Partisanengruppen "Russischer Freiwilligenkorps" und "Freiheit Russlands" unterwegs. Ihr Ziel: Moskau "befreien" und dann der Systemwechsel. Präsident Wladimir Putin absägen.
Ist das der Widerstand, den sich die Welt – allen voran die Ukrainer:innen – erhofft? Das bleibt fraglich, meint auch der Russlandexperte Alexander Libman. Die Stimmung im Land, das zurzeit seinen Nachbarn überfällt, sei gedrückt, meint der Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Doch zuverlässige Daten ließen sich nicht generieren. Russland ist eine Autokratie. Eine Umfrage, die aufzeigen würde, dass das Volk den Krieg nicht gutheißt, wäre dem Kreml ein Dorn im Auge – und somit auch nie veröffentlicht worden.
Doch Libman sagt:
Gleichzeitig sähen die Russen auch keine Möglichkeit, die Lage zu ändern und keinen Ausgang aus der Situation. So eine Lage, meint Libman, ist sehr instabil und kann zwei Richtungen kippen.
Proteste kämen demnach, wenn überhaupt, primär von Kräften, die eine resolutere und aggressivere Vorgehensweise fordern.
Eine resolute Vorgehensweise zeigt sich allerdings zurzeit schon – nur eben in die andere Richtung. Kämpfe in Belgorod, Drohnenangriffe in Moskau.
Noch am Donnerstag hatte die russische Armee erklärt, sie habe eine versuchte "Invasion" ukrainischer Einheiten in der Region Belgorod zurückschlagen können. Ob die Ukraine tatsächlich verwickelt ist, lässt sich nicht unabhängig prüfen – doch zu den Kämpfen in der Grenzregion bekennen sich weiterhin die von Russland als Terrororganisationen eingestuften Milizen "Russischer Freiwilligenkorps" und die "Legion Freies Russland". Und die wollen bis zum Schluss kämpfen. Ihr Statement ist eindeutig: Freiheit wird mit Blut erkauft.
Laut dem britischen Geheimdienst stehen die russischen Befehlshaber nun vor dem akuten Dilemma, ob sie die Verteidigung in den russischen Grenzregionen verstärken oder ihre Linien in der besetzten Ukraine verstärken sollen.
Auch der Politikwissenschaftler und Militärexperte Gustav Gressel schätzt die Situation so ein. Schon am vergangenen Donnerstag sagte er dem ZDF, Putin müsse reagieren. "Er kann sich das nicht gefallen lassen." Daher werde er Soldaten aus der Ukraine abziehen müssen, um sie an der eigenen Grenze zu positionieren.
Schafft es der russische Machthaber nicht, die Milizen zu kontrollieren, könnte dies für ihn peinlich, gar gefährlich werden. Würde ein Erfolg aus diesem Funken Hoffnung ein Lauffeuer machen?
Daran glaubt der Experte Libman nicht. "Ein breiter Widerstand gegen den Krieg ist unwahrscheinlich", sagt er. "Russland kann effektiv die Dissidenten unterdrücken." Unzufriedenheit in der Bevölkerung werde in Autokratien nur dann relevant, wenn es eine Spaltung der Eliten gebe. Und die sei unwahrscheinlich, "auch, weil die Eliten keinen Ausweg aus der jetzigen Situation sehen". Zwar seien sie mit dem Krieg unglücklich, glaubten aber, dass eine Niederlage die Lage für sie noch schlimmer machen werde.
Außerdem ließ sich in den vergangenen 15 Monaten ein tödlicher Trend in Russland erkennen: Kritische Stimmen aus Oligarchen-Kreisen verstummten. Unerklärliche Todesfälle nahmen zu. Auch die Elite wird offenbar eingeschüchtert.
Doch die autokratischen Ketten bleiben nicht überall stabil: Die Krim, die Russland 2014 völkerrechtswidrig annektierte, wird immer mehr zum lästigen Anhängsel. Zumindest wirkt es so, verfolgt man die Meldungen, über Sabotageakte und Angriffe.
Denn es häufen sich Angriffe, deren Ursprung wohl auf der Halbinsel zu finden ist. In den vergangenen Wochen mehrten sich Explosionen, die die Infrastruktur beschädigten. Am 18. Mai etwa entgleiste zwischen Simferopol und Sewastopol, der größten Stadt auf der Halbinsel Krim, ein Güterzug. Laut dem britischen Geheimdienst geht es dabei darum, die Versorgung der in Sewastopol stationierten russischen Schwarzmeerflotte zu verhindern. Ein zunehmender Kontrollverlust sei erkennbar. Doch Russlandexperte Libman entschärft die Aussagen: "Die [Angriffe] scheinen aber für die russische Kriegsmaschine nicht ausschlaggebend zu sein."
Dann wären da aber noch die Drohnen über Moskau.
Woher sie kommen, wer sie geschickt hat – bislang bleibt das ein Rätsel. Die Ukraine bestreitet, verwickelt zu sein. Der Kreml allerdings steht zu seiner Anschuldigung: Die Ukraine sei ein Terrorstaat, der es auf Russland abgesehen habe.
Drei Möglichkeiten gibt es, woher die Drohnen stammen könnten:
Die letzte Möglichkeit hat der Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zur Sprache gebracht. Der "Berliner Morgenpost" sagte er, dass es sich bei dem Drohnenangriff auf Moskau am Dienstag wahrscheinlich um eine Finte Russlands handele. Er vermutet, dass russische Kräfte die Drohnenattacke inszeniert haben, um die Ukraine zu diskreditieren. "Die Botschaft: 'Die Ukraine ist ein Terrorstaat wie Russland'", zitiert ihn die "Berliner Morgenpost".
Das solle am Ende dazu führen, dass die westliche Gesellschaft weniger bereit ist, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen.
Putin bezeichnet die Angriffe hingegen als "klaren Beleg für terroristische Aktivitäten der ukrainischen Führung", was natürlich zum Narrativ passen würde, das Russland in seiner Propaganda über die Ukraine verbreitet.
Nichtsdestotrotz können diese Angriffe für Putin weitaus ungemütlicher werden, als sie es bisher sind. Haben die jüngsten Angriffe doch gezeigt, dass Moskaus Flugabwehr längst nicht so gut funktioniert, wie man es erwartet hätte. Zwar wurden die meisten Drohnen in der Luft abgeschossen, doch dass sie es überhaupt bis in die Vororte der Hauptstadt schafften, war eine Demütigung für die russische Verteidigung – und damit für die gesamte russische Führung.
Putin selbst hatte immer wieder versucht, aufzuzeigen, wie stabil seine Führung ist. Doch dieses Bild wirkt nun zumindest brüchig, nachdem klar ist, dass feindliche Drohnen zur Gefahr von Moskaus Einwohner:innen werden können.
Dennoch: Die Autokratie in Russland wirkt noch immer zu stark auf das Volk ein. Ein offener Widerstand ist laut dem Experten Libman unwahrscheinlich, erst einmal quasi unmöglich.