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Bedingungsloses Grundeinkommen in Deutschland: Könnte das funktionieren?

Pfandsammler in der U-Bahn-Station Köln HBF. Köln, 17.10.2016 Foto:xC.xHardtx/xFuturexImage

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Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen dürfte die Armutsquote sinken.Bild: imago images / Future Image/ Hardt
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Bedingungsloses Grundeinkommen: Utopie oder Weg aus der Armut?

10.09.2023, 14:30
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Es klingt nach einem Wunschtraum: Jede:r Bürger:in der Republik bekommt monatlich einen festen Betrag überwiesen, der zum Leben reicht, und das, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Idee dahinter: Mit dem festen Betrag, den es monatlich vom Staat gäbe, würden Sozialleistungen ersetzt und Menschen entlastet. Die Gemeinschaft könnte so gestärkt werden.

Was bedeutet bedingungsloses Grundeinkommen?
Die Idee ist, dass jeder Mensch einen bestimmten Betrag monatlich ausgezahlt bekommt, ohne dass dieser an eine Bedingung geknüpft wird. Es gibt unterschiedliche Modelle, wie ein solches Grundeinkommen umgesetzt werden könnte. So gibt es die Idee, das Grundeinkommen unabhängig vom Einkommen auszuzahlen. Andere Modelle verrechnen das Grundeinkommen mit dem jeweiligen Erwerbseinkommen der Person – oder sorgen dafür, dass die Zahlung durch Steuermehreinnahmen bei hohen Einkommen wieder verrechnet werden.

Davon sind zumindest die Unterstützer:innen der Idee überzeugt. In einem früheren Gespräch mit watson sagte beispielsweise Joy Ponander vom Berliner Bündnis "Volksentscheid Grundeinkommen":

"Es schafft eine Sicherheit und gibt Raum, kreativ zu sein. Solidarisch zu sein. Mehr Vertrauen ineinander macht uns stärker und nicht schwächer."

Worum es gehe, sei ein Paradigmenwechsel, der Menschen freier und selbstbestimmter mache.

Unbezahlbar. Das ist das Argument, das Kritiker:innen am häufigsten vorbringen. Stefan Bach, ein Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung (DIW) hat nun für eine Studie einen Rechner entwickelt. Dieser berechnet, wie teuer das Grundeinkommen wäre, und mit welchen steuerlichen und sozialpolitischen Anpassungen es sich realisieren ließe.

Bundesweit hat die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens Sympathisant:innen, wie hier in Berlin.
Bundesweit hat die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens Sympathisant:innen, wie hier in Berlin.Bild: Expedition Grundeinkommen / Milan Schuld

Ist das Vorhaben mehr als bloße Utopie? Könnte die Solidargemeinschaft so vielleicht sogar zukunftsfest gemacht werden?

Das deutsche Sozialsystem hat Lücken

"Tatsächlich ist das System nicht armutsfest", kommentiert Bettina Kohlrausch das deutsche Sozialsystem im Gespräch mit watson. Kohlrausch ist wissenschaftliche Direktorin bei der Hans-Böckler-Stiftung. Einer ihrer Schwerpunkte ist die soziale Ungleichheit.

Klar ist, dass die aktuellen Sozialausgaben nicht reichen, um die Beziehenden von Sozialhilfen armutsfest aufzustellen. Das Bürgergeld soll zwar im kommenden Jahr auf 563 Euro steigen – laut Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands bräuchte es für eine ausreichende Absicherung allerdings 725 Euro. So wäre ein Leben in Würde und mit sozialer Teilhabe möglich.

Auch Altersarmut ist nach wie vor ein Problem, das die Rentensätze nicht auffangen können. Denn der Grund dafür liegt auch darin, dass viele Frauen, die heute (teils seit Jahren) in Rente sind, Lücken in ihrer Erwerbsbiografie haben. Übersetzt bedeuten diese "Lücken", dass die Frauen Mütter geworden sind. Daheim geblieben sind, um die Kinder zu erziehen. Danach womöglich in Teilzeit weitergearbeitet haben. Ältere Semester haben vielleicht nie wieder angefangen, in Vollzeit zu arbeiten.

Bildnummer: 52123760 Datum: 15.09.2007 Copyright: imago/Astrid Schmidhuber
Gerhard Schröder (GER/SPD) trinkt ein Bier während einer Rede vor dem SPD Ortsverein in Wolfratshausen, Personen; 2007, Wolfr ...
Alt-Kanzler Gerhard Schröder hatte im Zuge einer großen Sozialreform Hartz-IV eingeführt.Bild: imago images / Astrid Schmidhuber

Seit der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit den Hartz-Reformen die frühere Sozialhilfe abgeschafft hat – und so viele Erwerbslose und -unfähige in die Armut gerutscht sind, wird in Deutschland über das bedingungslose Grundeinkommen gestritten. Der Verein Mein Grundeinkommen verlost schon heute bedingungslose Grundeinkommen über ein Jahr an Menschen. 1000 Euro bekommen die Gewinner:innen monatlich. Finanziert wird das Experiment über Crowdfunding.

Bedingungsloses Grundeinkommen würde viel Geld kosten

Auf der Webseite des Vereins lässt sich nun auch durch einen Rechner ein eigenes Grundeinkommen-Modell erstellen. Dort kann man eintragen, wie viel jeder Mensch im Monat vom Staat erhalten soll. Gibt man dort etwa 1000 Euro pro Person und für Minderjährige die Hälfte ein, errechnet der Konfigurator ein Minus im Staatshaushalt von rund 920 Milliarden Euro. Knapp doppelt so viel, wie der Bundeshaushalt heute insgesamt fasst.

Ein Konfigurator der Vereins Mein Grundeinkommen kann nun Grundeinkommen-Modelle berechnen
Bild: screenshot / mein Grundeinkommen

Angepasst werden können dann aber auch noch Einsparungen, wie die heutigen Sozialausgaben zu streichen, oder neue Steuern. Der Rechner soll zeigen: Das Grundeinkommen ist finanzierbar – zumindest dann, wenn man den Sozialstaat an das neue Konzept anpasst. Die Armutsgefährdung könnte so massiv abnehmen.

Finanzierbar wäre das Modell aus Sicht des Vereins Mein Grundeinkommen zum Beispiel auch durch die Einführung einer "Flat Tax", eine einheitliche Steuer auf alle Einkommen. So müssten Top-Verdiener entsprechend mehr zum Sozialstaat beitragen als heute. Ein Modell von vielen.

All das wäre aber nur dann möglich, wenn sich das Arbeitsverhalten der Menschen durch das Grundeinkommen nicht verändern würde. Wenn Minijobber:innen also Minijobber:innen blieben und Menschen dennoch bis zum Renteneintrittsalter arbeiteten.

Aus Sicht von Kohlrausch wäre für die armutsfeste Absicherung eine "zielgenaue Unterstützung in Form einer angemessenen Erhöhung der Mindestsicherung und eine Vereinfachung von Verwaltungsvorgängen, wie bei der Kindergrundsicherung geplant" die bessere Option. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist aus Sicht der Soziologin zu teuer und zu ungenau – schließlich bekämen alle Menschen die gleiche Leistung.

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Viele Senior:innen sind von Altersarmut betroffen.Bild: dpa / Roland Weihrauch

Was aus ihrer Sicht außerdem problematisch wäre:

"Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde zudem die Arbeitgeber*innen aus der Pflicht nehmen, über vernünftige Löhne und gute Arbeit allen Erwerbspersonen, ein Angebot zur sozialen Teilhabe zu machen."

Kohlrausch sieht es außerdem nicht als gegeben an, dass der Sozialstaat immer teurer werden muss. Sie meint:

"Wie viel Geld in den Sozialstaat fließt, hängt von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt von der Frage, ob Menschen unter Bedingungen arbeiten, die ihnen erlauben, bis zur Rente erwerbstätig zu sein und ob das Einkommen reicht, um im Alter ausreichend Rente zu haben."

Um den Sozialstaat zukunftsfest zu machen, könnte es also auch reichen, bestehende Sozialleistungen bürokratisch zu verschlanken und zielgerichteter auszuzahlen – und die Arbeitgebenden in die Pflicht zu nehmen, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die ein langes Erwerbsleben zu ausreichendem Gehalt ermöglichen.

Expertengremium hält Idee für unrealistisch

Auch der wissenschaftliche Beirat im Finanzministerium hält das bedingungslose Grundeinkommen für nicht finanzierbar. So lautete zumindest 2021 beim jüngsten Gutachten das Urteil.

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Das Problem: Durch das Gießkannenprinzip würde der Staat aus Sicht der Expert:innen auf wichtige Informationen zur Auszahlung der Absicherung verzichten – und so unnötig mehr Geld ausgeben. Das bedingungslose Grundeinkommen berücksichtigt nämlich weder, wo ein Mensch lebt, noch wie groß die Haushaltsgröße ist – beides hat aber damit zu tun, wie viel ein Mensch zum Leben braucht.

Das Pilotprojekt Grundeinkommen, das der Verein Mein Grundeinkommen aktuell gemeinsam mit dem DIW durchführt, dürfte zumindest Aufschluss darüber geben, wie sich die bedingungslose Absicherung auf die Erwerbstätigkeit ausübt. Aber auch darüber hinaus, so macht es den Anschein, bleiben nach wie vor Fragen offen. Ob das bedingungslose Grundeinkommen jemals Realität wird, bleibt abzuwarten – aktuell zumindest wirkt es eher wie eine utopische Vorstellung.

Kriminalstatistik: Zahl der Straftaten in Deutschland gestiegen – was das bedeutet

Die Zahl der Straftaten in Deutschland ist im vergangenen Jahr um 5,5 Prozent auf 5,94 Millionen gestiegen. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2023 hervor, aus der die "Welt am Sonntag" am Samstag vorab zitierte und die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag vorgestellt hat. Die Gewaltkriminalität erreichte demnach mit rund 215.000 Fällen den Höchststand seit 15 Jahren.

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