Hunderte Menschen mit Laternen, Kerzen und Lichterketten spazieren durch das abendliche Upahl in Mecklenburg-Vorpommern. Kinder und Eltern, alte und junge Menschen. Am Ende ihres Spazierganges lässt die Gesellschaft Luftballons steigen. Das Dorf Upahl demonstriert – gegen den Bau einer Geflüchtetenunterkunft. 400 Geflüchtete sollen hier unterkommen, wenn das Containerdorf fertig ist. 500 Menschen leben in Upahl.
So ruhig wie an diesem Abend im Februar blieben die Kritiker:innen aber nicht immer. Im Januar beispielsweise kam es in Grevesmühlen beim Kreistag von Nordwestmecklenburg zu Tumulten. Dort wurde über die Geflüchtetenunterkunft abgestimmt. 700 Menschen demonstrierten vor der Tür – darunter etliche Rechtsextreme. Manche versuchten, den Kreistag zu stürmen.
Am Dorf Upahl zeigt sich exemplarisch das aktuelle Problem in der Bundesrepublik. Eines der vielen. Zahlreiche Kreise und Gemeinden haben Angst, dass sie an ihre Grenzen stoßen. Dass zu viele Geflüchtete kommen. Suchen zu viele Menschen Schutz in Deutschland?
Im vergangenen Jahr haben 244.132 Menschen einen Asyl-Antrag in Deutschland gestellt. Zum Vergleich: 2016 stellten 745.545 Menschen einen Antrag, 2021 190.816. Trotzdem schlagen die Länder bereits jetzt Alarm: Die Menge an Geflüchteten sei nicht stemmbar, meinen manche Landesfürsten. Zum Beispiel der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU). Er hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) aufgefordert, das Thema zur Chefsache zu machen.
Denn zu den Geflüchteten, die Asyl-Anträge stellen, kommen auch noch die Geflüchteten aus der Ukraine. Zwar brauchen die keine Anträge zu stellen, müssen aber trotzdem untergebracht werden, die Kinder müssen in die Schule gehen können und sie bekommen Geld.
Auch Landräte sind alarmiert – zum Beispiel der Grüne-Landrat des Kreises Miltenberg (Bayern), Jens Marco Scherf. Er hat vor kurzem einen offenen Brief an den Kanzler geschickt: Die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht, stellt er darin klar.
Landkreistagspräsident Reinhard Sager hat zudem vom Bund gefordert, den Kommunen ihre Kosten für die Unterbringung Geflüchteter abzunehmen. "Der Bund muss ab sofort, ab dem nächsten Treffen mit uns, garantieren, dass sämtliche flüchtlingsbedingten Kosten nicht auf der kommunalen Ebene hängenbleiben", sagte der Vorsitzende des Deutschen Landkreistags der Zeitung "Welt".
Mehr Erstaufnahme-Unterkünfte seien zudem nötig, um den "enormen Unterbringungsdruck" zu verringern, dem Landkreise und Städte ausgesetzt seien. Generell werden Geflüchtete innerhalb von Deutschland nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt. Der Schlüssel legt fest, welches Bundesland wie viele Menschen aufnehmen muss. Berechnet wird der jedes Jahr neu – und ändert sich je nach Steuereinnahmen und Bevölkerungszahlen.
Um die Kommunen zu unterstützen, hat der Bund bereits im Winter 2022 ein Milliarden-Paket auf den Weg gebracht. Konkret handelt es sich um 4,25 Milliarden Euro. Bei einem Flüchtlingsgipfel mit den Ländern möchte Innenministerin Nancy Faeser eine Bestandsaufnahme machen – und gemeinsam an den Problemen arbeiten.
Ein Problem sei, meint SPD-Politiker Hakan Demir, dass es innerhalb der Bundesländer keinen Verteilungsschlüssel gibt. Das bedeute zum Beispiel, dass Nordrhein-Westfalen alle Geflüchteten, die es aufnimmt, nach Bielefeld oder Essen schicken könnte, wenn es das so entscheide. Besser wäre natürlich, Geflüchtete gerecht auf die Kommunen zu verteilen.
Problem Nummer zwei: "Wir haben 2015/2016 Kapazitäten in der Unterbringung von Geflüchteten aufgebaut, die dann in den Folgejahren leider wieder abgebaut worden sind. Auch das führt dazu, dass einige Kommunen überfordert sind." Es kämen also nicht zu viele Geflüchtete, man sei nur teilweise schlecht vorbereitet. Aber Deutschland könne das stemmen. Der Bund greife den Ländern hier unter die Arme – mit Geld und mit Unterkünften.
Der SPD-Politiker räumt ein, dass es Landkreise gebe, in denen die Verteilung nicht gut funktioniere. Trotzdem sei Deutschland noch lange nicht an einer Grenze, wo es nicht möglich sei, weitere Geflüchtete aufzunehmen. Demir fügt an:
Auch FDP-Politiker Manuel Höferlin erkennt die Belastungen der Kommunen an. Gegenüber watson stellt er allerdings klar: Der Bund lässt die Länder nicht im Stich. Als unterstützende Maßnahmen führt Höferlin das Milliarden-Paket an, aber auch Unterbringungsplätze, für die der Bund verantwortlich sei. Was sichergestellt werden müsse: Dass das Geld auch dort ankommt, wo es gebraucht wird.
Höferlin fügt außerdem an: "Die Länder müssen auch ihren Beitrag bei der Unterbringung von Geflüchteten und der Rückführung Nichtbleibeberechtigter leisten." Er setzt Hoffnung in den von Innenministerin Nancy Faeser initiierten Flüchtlingsgipfel.
Durch die Beschleunigung von Asylverfahren sowie der Erleichterung bei Abschiebungen von Straftätern habe die Ampel-Koalition wichtige erste Schritte gemacht. Was es laut Höferlin aber braucht, ist ein Paradigmenwechsel. Das Ziel: "Irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen."
Eine "vernünftige" Integrationspolitik fordert der Grünen-Politiker Julian Pahlke im Gespräch mit dem "Deutschlandfunk". Und die müsse auf jeden Fall anders aussehen, als es gerade in Upahl geplant wird. Denn klar sei: 400 Geflüchtete auf 500 Einwohner:innen, das ist zum Scheitern verurteilt. Wichtig sei nämlich, die Schutzsuchenden zu einem Teil der Gesellschaft zu machen.
Auch Pahlke erkennt die besondere Herausforderung der aktuellen Situation an. Aber: "Nur weil gerade viele Menschen Schutz brauchen, können wir nicht eine zeitgemäße und moderne Zuwanderungspolitik diskreditieren."
Damit meint er: Auch wenn gerade viele Menschen nach Deutschland flüchten, darf die Reaktion darauf nicht sein, die Grenzen dichtzumachen. Stattdessen müssten sich Bund, Länder und Kommunen zusammensetzen und überlegen, wie sie die Sache gemeinsam anpacken können.
Ganz anders sieht die Union die Sache. Auf watson-Anfrage erklärt der innenpolitische Sprecher Alexander Throm (CDU), dass Deutschland an einem Punkt sei, an dem es nicht mehr um Verteilung gehe – sondern um die Frage der Kapazitäten an sich. "Die Kommunen stehen ganz einfach am Rande ihrer Leistungsfähigkeit", sagt er.
Es sei bezeichnend, dass der hessische Ministerpräsident den Kanzler aufgefordert hatte, den Flüchtlingsgipfel zur Chefsache zu machen. Denn Hessen ist die Heimat von Innenministerin Faeser. Throm sagt: "Offenbar hat man in Hessen verstanden, dass sie von der Innenministerin nichts erwarten können." Der CDU-Politiker wirft Olaf Scholz vor, nicht zu reagieren. Statt sich den Problemen anzunehmen, schaffe die Regierung immer weitere Anreize für die Asylzuwanderung nach Deutschland.
Die Lage in Deutschland ist aktuell angespannt, darin sind sich wohl alle einig. Aber, wie es die Ampel-Politiker deutlich machen: nicht überspannt. Wie Länder und Kommunen mit den Schutzsuchenden umgehen können – ohne an ihre Belastungsgrenzen zu stoßen, darüber sollen die Beteiligten nun auf dem Flüchtlingsgipfel debattieren.