Eine Rekrutin übt an einem Schießstand.Bild: dpa / Uwe Anspach
Analyse
03.03.2022, 23:0009.06.2022, 11:24
Manche Männer, die im Jahr 2011 volljährig wurden, erinnern sich sicherlich: Zu Beginn des Jahres erhielten sie eine Einladung zur Musterung. Hingehen mussten sie im Zweifel aber nicht mehr. Seit Juli 2011 ist die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt. In der nach dem Selbstverständnis vieler Politikerinnen und Bürger pazifistischen Bundesrepublik muss grundsätzlich niemand mehr zum Militär, wenn er es nicht will. Auch der Zivildienst, den früher absolvierte, wer nicht zur Bundeswehr wollte, ist damit weggefallen.
Nun, da Putins Armee in die Ukraine einmarschiert ist und die Rückkehr zum Frieden in Europa weit entfernt scheint, steht wieder einmal die Frage im Raum, ob Deutschland zurückkehren sollte zur Wehrpflicht. Wie auch schon 2020, als rechtsextreme Strukturen in der deutschen Armee aufgedeckt wurden.
Damals sprach sich die Sozialdemokratin und Wehrbeauftragte Eva Högl klar für eine Wiedereinführung aus. Die SPD-Politikerin sagte damals in einem Interview, es tue der Bundeswehr sehr gut, "wenn ein großer Teil der Gesellschaft eine Zeitlang seinen Dienst leistet". Das erschwere die Verbreitung von Rechtsextremismus in der Truppe. Die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) war aber dagegen.
Heute fordert die CDU in Niedersachsen an vorderster Front die Wiedereinführung – während die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) dagegen ist.
Die CDU in Niedersachsen betont gegenüber watson, dass diese Forderung nur einer der Punkte in einem Thesen-Papier von Landesparteichef Bernd Althusmann sei.
Vonseiten der Niedersachsen-CDU heißt es:
"Unter anderem ist eine der Überlegungen, dass eine allgemeine Dienstpflicht stufenweise unter Berücksichtigung der Ausbildungskapazitäten wieder eingeführt werden könnte. Diese könnte auch die Ableistung eines Wehrdienstes umfassen, aber ebenso die Ableistung eines sozialen Jahres für junge Frauen und Männer beispielsweise in einem Pflegeheim."
Prinzipiell konzentriere sich das Thesenpapier aber auf eine verbesserte finanzielle und materielle Ausstattung der Bundeswehr – zumindest diese Punkte dürften sich mit dem Bundeswehrsonderetat von 100 Millionen Euro realisieren lassen, auch ohne Wehr- oder Dienstpflicht.
Dem Petitionsausschuss im Bundestag liegt außerdem eine Petition zur Wiedereinführung der Wehrpflicht und des Zivildienstes vor. Die Unterzeichnungsfrist läuft noch bis Mitte März. Als Begründung wird in dem Antrag folgendes angegeben:
"Aufgrund der weltpolitischen Spannungen am Beispiel Ukraine – Russland sowie des Pflegenotstandes ist es zur Erhöhung der Wehrfähigkeit und Verbesserung der Personallage in Krankenhäusern und Altersheimen dringend geboten, die bewährte Pflicht wieder einzuführen."
Doch könnte die Wehrpflicht in der aktuellen Situation helfen? Hat die Bundeswehr ein Nachwuchsproblem? Und wie handhaben es andere europäische Staaten?
Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD).Bild: dpa / Philipp Schulze
"Ich glaube nicht, dass die Wehrpflicht uns gerade in der aktuellen Diskussion jetzt wirklich weiter hilft", hat Verteidigungsministerin Lambrecht am Sonntag in der ARD gesagt. Es handele sich dabei um eine große Reform. Eine Frage sei auch, ob Frauen ebenfalls zum Dienst bei der Bundeswehr verpflichtet werden würden. Es gehe nun darum, die aktuellen Aufgaben zu bewältigen, denn die Situation sei ernst, machte Lambrecht klar.
Prinzipiell ist es möglich, die Wehrpflicht in Deutschland wieder einzuführen. Schließlich wurde sie 2011 nicht abgeschafft, sondern ausgesetzt. Das Ende der Dienstpflicht gilt ausschließlich in Friedenszeiten, im Spannungs- oder Verteidigungsfall kann sie wieder aktiviert werden. Nach wie vor heißt es in Artikel 12a des Grundgesetzes deshalb:
"Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden."
Auf watson-Anfrage beim Verteidigungsministerium, ob über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nachgedacht werde, heißt es:
"Wenn die Bedrohungslage gesellschaftlich wieder so eingeschätzt wird, dass wir mobilisierungsfähige Streitkräfte brauchen, muss das auch debattiert werden."
Entscheiden könne das Ministerium über diese Frage aber nicht allein – eine Wiedereinführung könne zudem mehrere Jahre dauern. Einen Nachwuchsmangel gebe es in der deutschen Armee ohnehin nicht.
Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums erklärt auf watson-Anfrage: "Die Anzahl an Bewerbenden für militärische Verwendungen lag indes zwischen 2018 und 2020 bei durchschnittlich 50.000 pro Jahr; im zivilen Bereich bei mehr als 80.000."
Dieses Interesse zeigt aus Sicht der Sprecherin, dass der Dienst bei der Bundeswehr nach wie vor attraktiv ist. Im Schnitt würden jährlich 19.000 Soldatinnen und Soldaten, sowie 5.000 zivile Mitarbeitende eingestellt. "Durchschnittlich rund 35.000 Menschen befinden sich in Ausbildung, sie besetzen nach und nach offene Stellen", fügt die Sprecherin an.
Julis und Jusos einig: Wehrpflicht hilft weder jungen Menschen noch dem Heer
Wenig Gegenliebe schlägt dem Vorschlag, die Wehrpflicht wieder einzuführen, auch von den Jugendorganisationen der Regierungsparteien FDP und SPD entgegen.
Juli-Chefin Franziska Brandmann.Bild: dpa / Marvin A. Ruder
So sagt die Bundeschefin der Jungen Liberalen (Julis), Franziska Brandmann, gegenüber watson:
"Die Wehrpflicht ist ineffizient. Deshalb hat sich auch die Verteidigungsministerin bereits klar gegen eine Änderung des aktuellen Status Quo ausgesprochen. Die Wehrpflicht greift stark in das Leben junger Menschen ein, die dazu verpflichtet werden, zu dienen – unabhängig von einer möglichen Gefährdungslage."
Die Bundeswehr brauche keine jungen Menschen, die monatelang angelernt werden müssten, nur damit sie kurz darauf wieder aus dem Dienst ausscheiden. Vielmehr brauche die Armee "überzeugte, gut bezahlte und gut ausgerüstete Soldaten und Soldatinnen, die sich freiwillig in den Dienst ihres Landes stellen", meint Brandmann. Insgesamt helfe die Debatte, die nun von der CDU angeführt werde, weder der Bundeswehr noch jungen Menschen.
Brandmann fordert von den Christdemokraten deshalb, Vorschläge zur Stärkung der deutschen Verteidigungsfähigkeit zu machen, die der Bundeswehr tatsächlich helfen und nicht auf Kosten der Freiheiten junger Menschen debattiert würden.
Ebenso resolut spricht sich der Vize-Chef der Jusos, Lasse Rebbin, gegen die Rückkehr zur Wehrpflicht aus. Gegenüber watson sagt Rebbin:
"Als Jusos lehnen wir die Wiedereinführung einer Wehrpflicht entschlossen ab! Sie stellt einen Eingriff in die Freiheitsrechte junger Menschen dar und löst keines der strukturellen Probleme der Bundeswehr."
Statt Institutionen, die ihnen einen "Kameradschaftsgeist" vermittelten, brauchen junge Menschen aus Rebbins Sicht attraktive Ausbildungsbedingungen, ein ausfinanziertes BaföG und eine Ausbildungsplatzgarantie. Rebbin sagt: "Das ermöglicht es jungen Menschen, eigenständig ihr Leben zu gestalten und gibt ihnen Sicherheit."
In dem Vorstoß der CDU Niedersachsen sieht der Juso-Vize vor allem Wahlwerbung – in Niedersachsen wird im Mai ein neuer Landtag gewählt.
Der Vorschlag wirke auf ihn "eher wie eine geschmacklose Instrumentalisierung des grausamen Angriffskriegs Putins gegen die Ukraine", sagt Rebbin. Da die CDU die allgemeine Wehrpflicht 2011 unter dem damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière selbst ausgesetzt hätte, sei der Vorschlag außerdem populistisch.
Mit ihrer Ablehnung sind die beiden Jung-Politiker nicht allein: Gegenüber der "Welt" erklärte die SPD-Politikerin Eva Högl – die noch 2020 aufgrund von Rechtsextremismus innerhalb der Armee selbst die Rückkehr zur Wehrpflicht in den Raum gestellt hatte – dass diese in der aktuellen Situation nicht weiterhelfe.
Ähnlich äußerte sich der verteidigungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Marcus Faber, ebenfalls gegenüber der "Welt". Er nannte eine Rückkehr zur Wehrpflicht ein "falsches Signal".
In puncto Wehrpflicht ist Deutschland unter den Nato-Staaten übrigens kein Einzelfall. Von den 29 Mitgliedsstaaten haben gerade einmal fünf eine Pflicht-Armee: Die Türkei, Griechenland, Norwegen, Estland und Litauen.