In anderen Ländern feiert das Modell der 4-Tage-Woche bereits Erfolge – wie aber lässt sich so etwas auch im Bereich der Pflege realisieren?Bild: pexels / cottonbro studio
Analyse
Vor über 100 Jahren wurde 1919 in Deutschland der 8-Stunden-Tag eingeführt, 1965 folgte dann die 5-Tage-Woche und der dazugehörige Zuschlag, wenn Menschen an Sonn- und Feiertagen arbeiten müssen. Im Bereich der Arbeitszeit ist seither nichts mehr so Gravierendes passiert. Bis jetzt.
Denn seit einiger Zeit liebäugeln Arbeitnehmende, manche Arbeitgeber:innen und Gewerkschaften mit der Einführung einer 4-Tage-Woche. Das kann über flexible Arbeitszeitgestaltung wie in Belgien erfolgen. Hier sollen Beschäftigte bald entscheiden können, ob sie ihre Wochenarbeitszeit auf vier Tage verteilen wollen. Dafür würden sie an diesen Tagen zwar länger arbeiten, hätten aber drei Tage pro Woche frei.
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Auch in Großbritannien entschieden sich nach einer erfolgreichen Testphase eine Vielzahl an Unternehmen dafür, die 4-Tage-Woche beizubehalten. Aus Sicht des Arbeitspsychologen Dieter Zapf eine sinnvolle Idee. In einem früheren Gespräch mit watson erklärte er, es habe enorme gesundheitliche Vorteile, wenn Beschäftigte drei Tage Zeit hätten, um sich zu regenerieren. Gleichzeitig habe eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden gesundheitliche Nachteile.
IG Metall fordert 4-Tage-Woche für Stahlindustrie
All das zeigt: Eine Reduktion der Arbeitstage kann sinnvoll sein. In Deutschland fordert beispielsweise die IG Metall, dass die Stahlindustrie die 4-Tage-Woche einführt. Kritiker:innen rechnen damit, dass durch die Verkürzung der Arbeitszeit der Fachkräftemangel verschärft werden könnte.
Andere bemängeln, dieses Modell könne nicht auf alle Sektoren angewendet werden. Eine Berufsgruppe, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird: die Pflege. Denn die Arbeit am Menschen ist kein Nine-to-Five-Job, wie ihn viele im Büro haben. Nein, es ist ein 24/7-Beruf.
Gleichzeitig ist die Pflegelücke ein zunehmendes Problem, das nicht wegdiskutiert werden kann. Aktuell gibt es zu wenig Pfleger:innen für zu viele Hilfsbedürftige. Studien zeigen zwar, dass die Lücke mit Reformen geschlossen werden könnte, dafür aber müsste sich einiges tun. Gerade was Personalstruktur und Arbeitsbelastung angeht.
Pflegeeinrichtungen in Sangerhausen wagen Pilotprojekt
Nun will das DRK in Sangerhausen, Sachsen-Anhalt, den entscheidenden Schritt gehen. Zum Jahr 2024 soll hier in den Pflege- und Betreuungszentren des DRK die 4-Tage-Woche eingeführt werden. Erst einmal als Pilotprojekt. Das DRK betreibt in Sangerhausen mehrere Pflegeeinrichtungen und einen mobilen Pflegedienst.
Trotz der Verkürzung wird keine Arbeit liegen bleiben, meint Andreas Claus, Chef des DRK-Kreisverbandes Sangerhausen. Im Gespräch mit watson erklärt er: "Der Bedarf an Pflegekräften ist demografisch relativ leicht zu berechnen, deshalb muss uns heute klar sein: Wir müssen den Beruf attraktiver machen." Das sei der Grund, weshalb er sich für die Einführung der 4-Tage-Woche entschieden hat. Claus sagt:
"Wir wollen sexy sein für junge Menschen und für Fachkräfte aus anderen Ländern und dafür müssen wir das System umstrukturieren."
Digitalisierung entlastet das Pflegepersonal
Die Verknappung der Arbeitstage sei Teil einer größeren Strategie, die in den DRK-Einrichtungen Sangerhausen seit einigen Jahren Einzug erhalten hat. Das Stichwort hier: Digitalisierung. "Mit analogen Prozessen lassen sich flexible Arbeitswelten nur schwer abbilden", sagt Claus. Konkret bedeutet das: Dienstplanung, Arbeitszeiterfassung, Krankmeldungen, Dokumentation, all das läuft in Sangerhausen nun digital ab.
Statt am Schreibtisch können die Pfleger:innen von den DRK-Einrichtungen in Sangerhausen die Zeit dank Digitalisierung mit Patient:innen verbringen.Bild: IMAGO/Westend61
Das längerfristige Ziel: Sämtliche Arbeit, die Pfleger:innen in fachfremden Bereichen erbringen müssen, soll erleichtert werden. So bliebe mehr Zeit für die Arbeit am Menschen. Bevor diese Prozesse digitalisiert wurden, hätten sie 35 Prozent der Arbeitszeit des Pflegepersonals ausgemacht. Die Erhebung, wie viel Zeit die Digitalisierung genau einspare, stehe noch aus, es sei aber enorm.
"Wir wollen also neben der Flexibilisierung der Arbeitszeit auch eine Arbeitswelt schaffen, die wirklich mit den Menschen zu tun hat", sagt Claus. Am Ende würde sich durch diese Umstellung die verkürzte Wochenarbeitszeit fast ausgehen, meint der DRK-Chef von Sangerhausen.
Teilzeitkräfte könnten zurück in Vollzeit geholt werden
Die durchschnittliche Arbeitszeit der Pfleger:innen liege aktuell zwischen 28 Stunden und 36 Stunden. Er könnte sich vorstellen, dass mit der Einführung der 4-Tage-Woche manche Pfleger:innen in Teilzeit sogar auf Vollzeit aufstocken könnten. Er sagt:
"Der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn hat mal gesagt: 'Wenn alle Menschen, die in der Pflege arbeiten, Vollzeit arbeiten würden, hätten wir keinen Fachkräftemangel.' Das ist natürlich sehr unglücklich ausgedrückt, er hat damit aber einen Punkt."
Denn Studien zeigten auch: Gerade im Bereich von Pflege und Kindererziehung seien vor allem Frauen beschäftigt. Und davon viele in Teilzeit. Natürlich, räumt Claus ein, gebe es auch heute schon einige 40-Stunden-Vollzeitkräfte. Die seien oftmals in der Verwaltung angestellt – aber auch in diesem Bereich könnten durch die Digitalisierung zehn Prozent der Arbeitszeit reduziert werden.
Bei einer 100-Prozent-Stelle würde die 4-Tage-Woche ein 9-Stunden-Tag bedeuten. Aber auch nur in der Theorie, denn gerade im Bereich der Pflege, meint Claus, werde die 32-Stunden-Woche angestrebt. Er verspricht sich davon auch eine höhere Resilienz des Personals – und dadurch weniger Krankentage.
Wichtig ist dem DRK-Kreisvorsitzenden außerdem, dass die Arbeitszeit zur jeweiligen Lebensphase passt. Denn in den DRK-Einrichtungen Sangerhausen arbeiten Menschen zwischen 16 und 72 Jahren. Dazu gehöre auch, dass sich die Teams ihre Dienstpläne relativ frei gestalten könnten. So, dass es am Ende für jeden passt.
Dass die DRK-Einrichtungen in Sangerhausen mit dieser Strategie auch heute, vor der 4-Tage-Woche, gut fahren, zeigt ein Blick in die Stellenausschreibung: Eine einzige Stelle gibt es. Und zwar für einen Ausbildungsplatz.
Boris Pistorius (SPD) ist seit Januar 2023 Bundesverteidigungsminister unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er gilt als einer der beliebtesten Politiker Deutschlands.