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Analyse

Reallohnverluste: Ungleichheitsforscher erteilt Revolution klare Absage

Demo Solidarischer Herbst DEU, Deutschland, Germany, Berlin, 22.10.2022 Aktivisten von Ich Bin Armutsbetroffen mit Transparent Armut ist nicht sexy auf der Demonstration und Kundgebung der sozialen Be ...
Unter dem Hashtag IchbinArmutsbetroffen haben sich Menschen bundesweit vernetzt – die große Mobilisierung bleibt allerdings aus.Bild: imago images / IPON
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Resignation statt Rebellion: "Arme haben andere Sorgen, als auf die Barrikaden zu gehen"

09.02.2024, 20:0909.02.2024, 20:18
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2024, das Jahr der Proteste? Für eine abschließende Beurteilung ist es Anfang Februar freilich zu früh – doch die Häufung der Streiks direkt zum Jahresstart 2024 ist beachtlich. GDL und Verdi legen den Schienenverkehr reihenweise lahm – aufgebrachte Landwirt:innen verhindern das Durchkommen von Autos. Es wirkt, als würde der Druckkessel Deutschland platzen. Als wären Teuerung, Reallohnverluste und schlechte Arbeitsbedingungen zu viel geworden.

Der Aufschrei ist auch in Wahlumfragen zu erkennen. Zeitweise kommt es bei den Erhebungen zu verstörenden Ergebnissen. So legt etwa eine Befragung des Instituts Wahlkreisprognose nahe, dass ein neuer Landtag in Sachsen-Anhalt nach aktuellem Stand aus nur drei Parteien bestehen könnte: CDU, AfD, Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).

Deutschland ist unzufrieden. Diese Reaktion ist wenig verwunderlich. Nach den Coronajahren, in denen der soziale Zusammenhalt über der Impfdebatte und Maskenpflicht begonnen hat zu bröckeln, haben Kriege und Teuerung das Leben nicht leichter gemacht. Und auch wenn die Inflation aktuell wieder sinkt, haben viele nicht den Eindruck. Denn gerade Lebenshaltungskosten bleiben hoch. Und auch die hohen Mieten in den Städten steigen weiter.

Aus Sicht des Ungleichheitsforschers Marius Busemeyer liegt in der Verteuerung von etwa Lebensmittelpreisen in Kombination mit den nicht vollumfänglich angepassten Gehältern Potenzial für Unzufriedenheit. Die Streiks im Januar zeigten, dass viele Menschen die Reallohnverluste weniger hinnehmen, meint er im Gespräch mit watson. Busemeyer ist Professor an der Uni Konstanz.

Auf der anderen Seite werden Reiche aktuell immer reicher. Im Dezember 2023 kam heraus, dass Deutschlands Milliardäre wohl 500 Milliarden Euro schwerer sind, als bislang angenommen.

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Butterwegge: Revolution bleibt aus

Kein Wunder also, meint Christoph Butterwegge, dass es durch die wachsende Ungleichheit zunehmend Verteilungskämpfe innerhalb der Gesellschaft gibt. Butterwegge ist Professor an der Uni Köln und forscht zum Thema Ungleichheit und Armut.

Die wachsende Ungleichheit wird nicht zu einer Revolution führen, ist Butterwegge überzeugt. Vielmehr dürfte das gesellschaftliche Klima (noch) rauer werden. "Unzufriedenheit, der Alltagsfrust, die politische Zerstrittenheit und die Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr – all das nimmt momentan zu", sagt Butterwegge im Gespräch mit watson.

Der Koelner Ungleichheits- und Armutsforscher Christoph Butterwegge Foto vom 16.07.2021 beklagt, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland durch die Corona-Pandemie weiter verstaerkt wurde. Ein Vir ...
Aktuell schreibt Christoph Butterwegge das Buch "Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion, Inflation."Bild: imago images/epd / Guido Schiefer

Was sich ausbreite, seien Existenzsorgen, allgemeine Unsicherheit, die Angst vor dem sozialen Abstieg – und Zweifel an einer guten Zukunft des Landes. Krisen hätten zudem einen Polarisierungseffekt: "Die ständig neuen Krisen und Kriege schütteln die Gesellschaft durch. Und das rüttelt am Wohlbefinden eines Großteils der Bevölkerung."

Der Frust entlade sich in Deutschland vielmehr gegeneinander, als gegen die Regierung. Er sagt dazu:

"Heinrich Heine soll Deutschland wegen der Obrigkeitshörigkeit seiner Bürger als Land des Gehorsams bezeichnet haben. Dass hier nie eine Revolution glückte, wirkt jedenfalls bis heute nach."

Statt einer Änderung des Systems sei ein gemeinsames nach-unten-treten zu erwarten. Zuerst, meint Butterwegge, würden Geflüchtete unter Druck gesetzt und Asyl-Leistungen gestrichen, dann gehe es mit Bürgergeldempfänger:innen weiter.

Das habe auch mit der deutschen Geschichte zu tun: Das Bürgertum habe sich hier immer eher dem Adel angebiedert, statt eine bürgerliche Revolution zu begehen. Der Faschismus unter der Herrschaft der Nationalsozialisten habe schließlich sein Übriges getan, Aufmüpfigkeit zu zerschlagen.

Was in Deutschland noch dazukäme: Statt Armutsbekämpfung finde hierzulande eher Reichtumsförderung statt. Deren Auswirkungen beschreibt der Experte so: "Reichtum kann bei uns quasi unangetastet vererbt werden. Das ist in vielen anderen Ländern nicht so."

Auf Betriebsvermögen wird etwa kaum Erbschaftsteuer gezahlt, auf große Immobilienbesitze (ab 300 Wohnungen) ebenfalls nicht. "Das hat dazu geführt, dass der Reichtum deutscher Unternehmensdynastien über viele Generationen hinweg zementiert wird und sich die soziale Ungleichheit ständig reproduziert", meint er.

Politik stützt Reiche – Arme ziehen sich zurück

Union und FDP würden dabei die Position der Reichen verteidigen – die SPD ihren Job als Partei der Arbeiter:innen nicht besonders gut machen. Auch Ungleichheitsforscher Busemeyer merkt an, dass es die Aufgabe der Politik wäre, öffentliche Unterstützung für eine engagierte Umverteilungspolitik zu schaffen. Denn das Ausmaß der Vermögensungleichheit sei in Deutschland trotz Gewerkschaften und gestiegenem Mindestlohn überdurchschnittlich.

Und gerade die AfD, die sich als Partei der kleinen Leute inszeniert, sei in Wirklichkeit die Partei des großen Geldes, merkt Butterwegge an. "Das war bei den Nazis auch schon so", sagt er. Dennoch liefen jene, die zur unterprivilegierten Schicht gehörten, oft den Populist:innen hinterher – selbst wenn diese (Multi)-Millionäre sind.

Die Ampel, meint der Experte, begünstige die Stärke der AfD mit ihrer Politik. Auf der einen Seite verschrecke sie mit der progressiven Gesellschaftspolitik, wie der Cannabisfreigabe oder der Abschaffung des Paragrafen 219a, Menschen, die das Gefühl hätten, Recht und Ordnung bleibe auf der Strecke.

Auf der anderen Seite versage die Koalition bei der Sozialpolitik. Busemeyer sieht vor allem Nachholbedarf in Sachen Kommunikation. Es brauche außerdem eine direkte Reduktion der Ungleichheit, etwa durch Steuern auf hohe Vermögen – mit der Ampel werde das aber nicht kommen.

Generell hätten Reiche viel mehr Macht als Arme, weil sie Einfluss auf Politik und Gesellschaft haben. Und so könne eine Demokratie eigentlich nicht funktionieren, meint der Sozialwissenschaftler. Butterwegge verdeutlicht:

"Sehr Reiche sind auch politisch einflussreich, bis hin zur Gesetzgebung. Sie erreichen, dass ihr Vermögen weiter ansteigt und diese Entwicklung von staatlicher Seite unterstützt wird. Demokratie lebt aber davon, dass sich die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen durchsetzen."

Und auch wenn sich laut Busemeyer die Einkommenungleichheit im Unterschied zur Vermögensungleichheit gar nicht so sehr zugenommen habe, sei die allgemeine Wahrnehmung eine andere. Und diese gefühlte Ungleichheit könne einen stärkeren Einfluss auf Menschen haben, als die objektive; und so etwa das Vertrauen in den Staat schwächen.

Butterwegge meint, all das führe letztlich auch dazu, dass sich Armutsbetroffene immer weiter zurückzögen aus der "Wahlarena". So ließe sich anhand der Wahlbeteiligung von Vierteln in Großstädten ableiten, dass sich Arme immer weiter von der politischen Willensbildung entfernten – und Wohlhabenderen so eine noch größere Möglichkeit ließen, ihre Interessen durchzusetzen. "Arme haben ganz andere Sorgen, als auf die Barrikaden zu steigen. Sie resignieren, statt zu rebellieren", erteilt Butterwegge einer Revolution von unten eine Absage.

Die zunehmende Segregation, die es durch die Mietpreisexplosionen gibt, würde ihr Übriges tun, um Menschen unterschiedlicher wirtschaftlicher Schichten voneinander zu trennen. Butterwegge geht aber auch nicht davon aus, dass der Mangel an Wohnraum, der auch die Mittelschicht betrifft, zu einem Aufbegehren gegen die Politik führen könnte. Dafür müssten Menschen aufhören zu konkurrieren und anfangen, sich zu formieren, um gegen den Wohnraummangel aufzubegehren, meint er.

Die Revolution bleibt also aus. Stattdessen dürfte es in den kommenden Jahren zu noch mehr Verelendung kommen, prognostiziert Butterwegge. Und statt wie geplant bis 2030 die Obdachlosenzahlen stark zu mindern, könnten diese aufgrund all der Teuerungen und hohen Mieten steigen. Denn wenn die Preise explodieren, reicht ein kleinerer Schicksalsschlag, um Menschen in massive finanzielle Nöte zubringen.

"Wir sind nicht naiv: Wir brauchen Unterstützung, sonst sind wir weg"
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