Boden, Luft oder See: Die US-Marschflugkörper sind flexibel einsetzbar.Bild: ap/ US NAVY / Kenneth Moll
Analyse
Die aus deutscher Perspektive wichtigste Nachricht vom Nato-Gipfel wurde eher am Rande bekannt gegeben. Die Bundesregierung und die USA verkündeten am Mittwochabend in Washington die Stationierung US-amerikanischer Langstreckenraketen in Deutschland.
Mit der Stationierung tritt Deutschland immer tiefer in den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ein. Wegen deren Reichweite bis tief ins russische Territorium könnten auch Ziele in der Bundesrepublik ins Visier geraten. Davor warnt auch ein Militärexperte im Gespräch mit watson.
Deutschland im Visier? Riskanter Raketendeal mit USA
Demnach sollen ab 2026 Marschflugkörper des Typs Tomahawk die europäische Verteidigungsfähigkeit verstärken. Ralph Thiele, einst selbst in den Diensten der Nato, sieht mit dem Schachzug nicht nur hohe Steuerkosten verbunden. Seiner Meinung nach könnte Putin in den ausgerüsteten Basen neue Angriffsziele erkennen.
Ungewohnt schnell reagierte der Kreml am frühen Donnerstagmorgen auf die Ankündigung und kündigte in Person des stellvertretenden Außenministers Sergej Rjabkow an, eine "vor allem militärische Antwort darauf auszuarbeiten".
Militärexperte warnt: "Sind relativ schutzlos"
Keine besonders ermutigenden Worte laut Militärfachmann Ralph Thiele: "Wir sind relativ schutzlos, weil wir zu lange eine Art sicherheitspolitische Schwarzfahrerei betrieben haben." Die zweijährige Karenzzeit bis zur Auslieferung der hochmodernen Waffensysteme könnte sich zumindest theoretisch als fatal erweisen.
"Wir werden das mit den Russen kommunizieren müssen."
Militärexperte Ralph Thiele
Die Ankündigung könnte Deutschland nach Ansicht Thieles teuer zu stehen kommen. Der Oberst a.D. der Bundeswehr und Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft befürchtet aufgrund der neuen Gefahr, die von Deutschland ausgeht, ins Visier eines Präventivschlags zu geraten.
Eitel Sonnenschein: Scholz und Biden sind sich oft einig – auch in Sachen Tomahawk.Bild: AFP / Ludovic Marin
Thiele betont daher den hohen Stellenwert der noch bestehenden Gesprächskanäle zwischen Berlin und Moskau: "Wir werden das mit den Russen kommunizieren müssen, damit die nicht denken, wir wollen sie durch einen militärischen Schlag entwaffnen."
Tomahawks könnten von Deutschland russische Ziele treffen
Im Kalten Krieg und bis in die späten 1990er-Jahre waren schon einmal US-Langstreckenraketen in Deutschland stationiert. Heute ergibt der Standort nach Thieles Dafürhalten noch mehr Sinn, "weil wir mittlerweile militärisches Hinterland sind, und das Baltikum und Polen theoretisch schnell zum Kriegsgebiet werden können."
Die osteuropäischen Staaten fungieren somit als strategischer Puffer. Die milliardenschweren High-Tech-Waffen würden im Falle gravierender Geländeverluste nicht direkt in russische Hände fallen.
Wo genau die Tomahawks sowie die ebenfalls angekündigten, aber noch nicht entwickelten Hyperschallraketen der Gattung SM-6 untergebracht werden sollen, ist derzeit vollkommen unklar. Thiele, der bereits im Verteidigungsministerium und im Private Office des Nato-Oberbefehlshabers diente, erwartet in der Hinsicht ein "munteres wirtschaftliches Treiben".
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Geschacher um US-Basen: Experte rechnet mit Wettbieten
So könnte es um den Standort zusätzlicher US-Streitkräfte ein innerdeutsches Gerangel geben. "Da steckt viel Kaufkraft dahinter", erläutert Thiele die Hintergründe. "Darum werden Bundesländer konkurrieren. Die üblichen Verdächtigen sind Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg."
"Meistens ist der Betrieb viel teurer als die Beschaffung bei militärischen Systemen."
Ralph Thiele
Im Kriegsfall dürften viele der Marschflugkörper aber sowohl militärisch als auch geografisch mobilgemacht werden und häufig den Standort wechseln.
Zwar spekuliert Thiele mit einer Anzahl "unter hundert Exemplaren pro Waffensystem", dennoch kommt für Einlagerung, Sicherung und Instandhaltung ein gewaltiger finanzieller Aufwand auf den Staat zu. "Meistens ist der Betrieb viel teurer als die Beschaffung bei militärischen Systemen."
Raketen könnten militärische und finanzielle Bürde werden
Wie der "Spiegel" berichtet, hatte sich Olaf Scholz in den vergangenen Wochen gegenüber Washington hinter den Kulissen vehement für eine Stationierung in Deutschland starkgemacht. Folgerichtig nimmt Deutschland eine größere Verantwortung für die westliche Sicherheitsordnung wahr.
Der Preis dafür dürfte allerdings nicht nur eine erhöhte Angriffsgefahr sein. "Die Betriebskosten werden die USA zu großen Teilen auf die Gastgebernation abwälzen", glaubt Thiele.
Mit der Verkündung beim 75-jährigen Jubiläumsgipfel der Nato in Washington scheint der Deal in trockenen Tüchern zu sein. Fragezeichen bleiben aber mit Blick auf den Ausgang der US-Wahl im November. Dass der Deal bestehen bleibt, sei nicht gewährleistet.
Ob im Januar 2025 Biden oder Trump den Amtseid schwört, beide würden auf finanzielle Zuwendungen pochen, glaubt Thiele: "Beide wollen dasselbe. Biden fragt danach etwas freundlicher, Trump fragt eher unverschämt und nach mehr Geld."
Trump lässt sich leichter "über den Tisch ziehen"
Trump werde seine eigene Entscheidung treffen, sagt Thiele. Diesen schätzt er aber als "ungeduldig und erratisch" ein. Hinzu kommt ein "großer Kompetenzverlust" angesichts der Planungen, tausende Staatsbeamt:innen im Falle seines Wahlsiegs auszutauschen.
"Für seine Deals würde er auch Frösche schlucken, die sich als große Kröten herausstellen können."
Ralph Thiele
Um innenpolitisch zu punkten, könnte Trump die geopolitische Sicherheit links liegen lassen. Deshalb befürchtet Thiele, "dass Xi und Putin ihn viel leichter über den Tisch ziehen können. Für seine Deals würde er auch Frösche schlucken, die sich als große Kröten herausstellen können."
Scholz und Biden beharren darauf, dass die Cruise-Missiles der defensiven Abschreckung dienen. Währenddessen spinnt Putin seine Version der Wahrheit: Der zufolge kreisten USA und Nato Russland militärisch immer weiter ein.
Selbst wenn Putin die Stationierung der offensiven Langstreckenraketen als Provokation betrachtet, müht sich Thiele um Differenzierung: "Wenn man beschossen wird und versucht, die Abschussbasen zu zerstören, wäre auch diese Offensive eine Verteidigungsoperation."
"Europaphobie": Westliche Aufrüstung spielt Putin in die Karten
Thiele bestätigt, dass die neuen Waffensysteme die Schlagkraft des Westens erheblich steigern: "Vom Flugzeug aus abgeschossen, fliegen die überall hin im russischen Territorium."
Putin beim Treffen der Brics-Allianz. Die Raketen könnten das Bündnis stärken.Bild: Pool Sputnik Kremlin / Valery Sharifulin
Die Raketen können Ziele in 2500 Kilometern Entfernung treffen, dabei fliegen sie nur 50 Meter über dem Boden. Noch durchschlagskräftiger sind die angekündigten Hyperschallraketen, weil sie selbst hoch entwickelten Raketenabwehrsystemen entwischen.
Als Verteidigungsmaßnahme angekündigt, spielen die Raketen Putin mit Blick auf die Achse der Brics-Nationen in die Karten. Den Grund dafür fasst Thiele in ein Wort: "Europaphobie."
Große Teile der Weltbevölkerung hätten das Gefühl, "dass Wirtschafts- und Finanzmacht sowie Rechtssysteme ungerecht zu Gunsten des Westens verteilt sind. Putin spielt die Karte, das System zu mehr globaler Balance und Gerechtigkeit zu verändern. Das ist die Musik, die Putin spielt."
Nach bald drei Jahren hat die Ukraine kaum noch Optionen, um den Krieg gegen Aggressor Russland militärisch zu gewinnen. Besiegt ist das geschundene Land deswegen aber nicht.
Am Dienstag ist es 1000 Tage her, seit der russische Autokrat Wladimir Putin den Befehl zur Invasion der Ukraine gab. Nun beginnt der dritte Kriegswinter. Er droht in der Ukraine "besonders kalt und dunkel zu werden", so der österreichische "Standard". Denn russische Luftschläge haben die Energieversorgung hart getroffen, zuletzt am Wochenende.